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Veröffentlicht am 31.07.2023

Ausschnitte koreanisch-deutscher Migrationsgeschichten in Bochum

In den Jahren 1963-1977 kamen knapp 8.000 koreanische Bergarbeiter und 11.000 Krankenschwestern im Rahmen bilateraler Abkommen nach Deutschland. Ihre Verträge waren bis 1980 auf drei Jahre begrenzt, mit dem Ziel, dass sie nach Ablauf der drei Jahre nach Korea zurückkehren. Nach 1980 war es den Bergarbeitern und Krankenschwestern möglich, auch über die drei Jahre hinaus in Deutschland zu bleiben. Viele sind zurückgekehrt, doch viele sind auch in Deutschland geblieben und haben Familien gegründet - so auch in Bochum. Eine Recherche von Min-Dju Jansen. Sie interviewte für unser Projekt koreanische Menschen, deren Geschichten im folgenden Beitrag erzählt werden.

Ausschnitte koreanisch-deutscher Migrationsgeschichten in Bochum
von Min-Dju Jansen

Im Rahmen des Projekts Bochum- Stadt der Vielen! habe ich verschiedene koreanische Senior*innen interviewt, die in den 70er Jahren als Bergarbeiter und Krankenschwestern nach Deutschland gekommen sind und heute alle in Bochum leben. Sie erzählen aus ihrem Leben in Korea, der Entscheidung nach Deutschland zu kommen und von ihrem Leben seitdem. Alle interviewten Personen sind Mitglieder der Koreanisch-Evangelischen Kirchengemeinde Bochum e.V. Eine Kirchengemeinde, die 1970 von koreanischen Bergleuten und Krankenschwestern gegründet wurde. Seit 1974 ist die Gemeinde in der Melanchthonkirche in der Königsallee in Bochum angesiedelt.

Da es sich bei den Gastarbeiter*innen nicht um Einzelfälle handelt und um zu verstehen in was für einem politischen und geschichtlichen Rahmen wir uns befinden, versuche ich zunächst einen geschichtlichen Überblick und einen kurzen Einblick in die Koreanisch-Evangelische Kirchengemeinde Bochum e.V., als eine koreanische Gemeinde von vielen, zu geben. Im Anschluss finden sie die Interviews, die ich geführt habe. Es sind vier Interviews mit sechs Personen. Zwei Einzelinterviews und zwei, jeweils mit einem Ehepaar.

Während ich die Interviews geführt habe, ist mir insbesondere die Vielfältigkeit der Biografien aufgefallen. Zu oft versuchen wir, Menschen in Gruppen zusammenzufassen. Es kann hilfreich sein und auch in diesem Projekt habe ich mich gezielt mit koreanischen Senior*innen, die als Gastarbeiter*innen nach Deutschland gekommen sind, getroffen, was ebenso einer Art von Kategorie entspricht. Sie teilen viele Gemeinsamkeiten, dennoch sollte man auf keinen Fall außer Acht lassen, dass es sich hierbei um Episoden und Erzählungen aus dem Leben ganz individueller Menschen handelt. Jeder und jede von ihnen hat einen eigenen Charakter, unterschiedliche Hintergründe und unterschiedliche Erfahrungen in ihrem Leben gemacht. 


Geschichte des Anwerbeabkommens der Bundesrepublik Deutschland mit der Republik Korea (Südkorea)

Nach Ende des Zweiten Weltkriegs erlebte Deutschland in den 1950er-60er Jahren einen rasanten und unerwarteten Wirtschaftsaufschwung. Die Arbeitslosenquote sank, gleichzeitig entstand ein Arbeitskräftemangel. Zur selben Zeit zogen viele Staaten, in denen ein Arbeitskräfteüberschuss herrschte, in Erwägung, ihre überzähligen Arbeitskräfte nach Westeuropa zu entsenden. Dies stellte den Beginn der Anwerbepolitik der Bundesrepublik Deutschland dar. Diese Anwerbepolitik richtete sich gezielt an südeuropäische und damit kulturell nahe „Gastarbeiter“ aus dem Mittelmeerraum. Der Begriff „Gastarbeiter“ sollte dabei suggerieren, dass die Arbeiter*innen nach einer gewissen Zeit wieder in ihre Heimatländer zurückkehren würden.  

Vor dem Mauerbau 1961 konnte der Bedarf an Arbeitskräften noch durch Ostdeutsche Arbeiter*innen und italienische Zuwanderer*innen gedeckt werden, nach dem Mauerbau jedoch wurde der Zustrom der Ostdeutschen gekappt. Um den Mangel an qualifizierten Arbeitskräften im Bereich der Industrieproduktion und im Bergbau zu decken und den wirtschaftlichen Erfolg voranzutreiben, wurden zeitlich begrenzte Anwerbeabkommen mit verschiedenen nahegelegenen Ländern geschlossen. Grundsätzlich schloss die Bundesrepublik Anwerbeabkommen mit Ländern Südeuropas, oder Ländern des Mittelmeerraums, wie bereits 1955 mit Italien, 1960 mit Spanien und Griechenland und im Oktober 1961 mit der Türkei. 1964 mit Portugal, 1965 mit Tunesien und 1968 mit Jugoslawien. Die Abkommen wurden nicht allein aufgrund geografischer Nähe mit diesen Ländern geschlossen. „Die sogenannten afro-asiatischen Länder wurden grundsätzlich gemieden, weil man zu große Unterschiede in kultureller und klimatischer Hinsicht befürchtete, und befürchtete, dass die weite Distanz die Rückkehr erschweren könnte“.  Diese pragmatische Entscheidung ist mit unterschwelligem Rassismus verbunden. Egal aus welchem Land, die Gastarbeiter*innen verband eins: „die Verrichtung von Arbeiten, die die Einheimischen mit steigendem Wohlstand nicht mehr gewillt waren auszuführen. Diese Arbeitsstellen waren in der Arbeitshierarchie in den meisten Fällen ganz unten angesiedelt.“  

1973, durch den Abschwung des Wirtschaftswachstums Deutschlands, welcher durch die Wirtschaftskrise bzw. die Ölkrise verursacht wurde, kam es 1973 zum Anwerbestopp von Arbeitsmigrant*innen. In der Theorie sollten sich die Anwerbeabkommen um ein sogenanntes „Rotationsprinzip“ handeln. Die Verträge der Arbeiter waren auf drei Jahre beschränkt. Nach Ablauf ihrer Verträge sollten sie zurückkehren und durch neue Arbeiter*innen ersetzt werden. In der Praxis funktionierte diese Theorie allerdings nicht so gut. Der Austausch, von den nach drei Jahren erfahrenen Gastarbeiter*innen mit unerfahrenen, erwies sich als ineffizient. Trotz der befristeten Dreijahresverträge verlängerte die Bundesregierung die Aufenthaltszeit und gestattete den Nachzug von Familienmitgliedern nach Deutschland.

Anwerbeabkommen mit Südkorea

Südkorea, befand sich nach Jahrzehnten japanischer Besatzung und infolge des Koreakriegs (1950-1953) in einer wirtschaftlich und politisch instabilen Situation, die Arbeitslosenquote erreichte 30% und die Wirtschaft wurde bis zu 60% durch ausländisches Kapital gestützt. Um die im Land herrschende Arbeitslosigkeit zu senken und gleichzeitig Geld ins Land fließen zu lassen, wurden Arbeitskräfte ins Ausland entsandt. Die meisten Leute, die ins Ausland gingen, schickten ihren Familien Geld, um sie finanziell zu unterstützen und förderten somit die Wirtschaft im Inland.

Am 16. Dezember 1963 wurde in dem „Programm zur vorübergehenden Beschäftigung von koreanischen Bergarbeitern im westdeutschen Steinkohlenbergbau“ ein Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Korea (Südkorea) zur Zeit der Militärdiktatur von Park Chung-hee geschlossen.

Ab 1966 wurden auch koreanische Krankenschwestern in die Bundesrepublik entsandt. Das Abkommen mit Südkorea, als ein von Deutschland sehr weit entferntes Land, erfolgte unter der Berücksichtigung außenpolitischer Überlegungen im Rahmen des Kalten Krieges. Somit war die Arbeitsmigration nicht nur wirtschaftlich motiviert, sondern lag den politischen Strategien des Kalten Krieges zugrunde.

Die Aufnahme freundschaftlicher Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Südkorea gründete sich auf gemeinsamen, strategischen Interessen. Es handelte sich dabei um die Eindämmung des Kommunismus und der Zusammenarbeit mit den USA.  Zudem wurden Korea und Deutschland als geteilte Länder, quasi als „entfernte Leidensgenossen“ gesehen, wie ein Kommentator schrieb. In der offiziellen Begründung der Bundesrepublik über politisch motivierte Anwerbeabkommen stand nicht der Arbeitskräftemangel im Vordergrund, sondern die wirtschaftliche und technische Entwicklungshilfe der Länder. Bei diesen Ländern wurden „Berufsgruppen unter Angabe der beruflichen Weiterentwicklung für bestimmte Programme selektiv ausgewählt.“ Bei Südkorea handelte es sich demnach, wie bereits erwähnt, um Bergarbeiter sowie Krankenschwestern.
 
Das eigentliche Ziel der beruflichen Weiterbildung war zum Teil jedoch eine Vorspiegelung falscher Tatsachen. Denn die meisten als Bergarbeiter nach Deutschland gekommenen Personen waren Studenten, ehemalige Angestellte und Akademiker, die weder vor, noch nach ihrer Migration im Bergbau tätig waren. Die koreanischen Frauen, die als Krankenschwestern nach Deutschland kamen, waren bereits in Korea sehr gut ausgebildet worden und ihre Migration löste in Südkorea einen eklatanten Mangel an Krankenschwestern aus. Die erst in Deutschland ausgebildeten Krankenschwestern hingegen standen vor dem Problem, dass ihre Abschlüsse in Korea nicht anerkannt wurden, da sie nicht dem dort geltenden Gesundheitsvorsorge-System entsprachen.  

Die koreanischen Bergarbeiter und Krankenschwestern wurden über den offiziellen Anwerbestopp der „Gastarbeiter“ 1973 hinaus bis 1977 angeworben. Diese Bergarbeiter und Krankenschwestern mussten nach Ablauf ihrer befristeten Drei-Jahresverträge nach Südkorea zurückkehren. Erst ab 1980 war es ihnen möglich, einer anderen Tätigkeit in Deutschland nachzugehen. Dennoch mussten sie sich ihr Bleiberecht durch öffentliche Proteste und das Sammeln von Unterschriften erkämpfen, bevor ihre Aufenthaltserlaubnis auslief bzw. dann doch verlängert wurde.  

Insgesamt kamen zwischen 1963-1977 ca. 8.000 Bergarbeiter und 11.000 Krankenschwestern nach Deutschland.  Seitdem hat sich Südkorea von einem der ärmsten Länder der Welt zu einer der führenden Volkswirtschaften weltweit entwickelt. Viele Koreaner*innen kehrten nach Korea zurück, doch viele blieben auch in Deutschland und haben hier Familien gegründet. Die in Deutschland Gebliebenen bilden das Fundament für die heute etwa 40.000 Menschen mit koreanischen Wurzeln in Deutschland, die nun Teil der deutschen Gesellschaft sind.

Die meisten Bergarbeiter aus Südkorea siedelten sich im Aachener Raum in Alsdorf, Würselen, Setterlich und im Ruhrgebiet in Duisburg-Hamborn, Walsum, Dinslaken, Gelsenkirchen und Bönen-Boegge an.

Die Krankenschwestern lebten in einem größeren Gebiet, das über das Ruhrgebiet hinausging, darunter Bochum, Essen, Dortmund, Witten, Hagen, Siegen und außerhalb Nordrhein-Westfalens in Hessen und Rheinland-Pfalz. Da es keine Institutionen gab, die sich um die sozialen Probleme der „Gastarbeiter“ kümmerten und es auch keine Beratungsstellen gab, an die sie sich bei Arbeits- und Menschenrechtsverletzungen an ihrem Arbeitsplatz wenden konnten, organisierten sie sich selbst. Aus ihren Bemühungen entstanden regelmäßige Zusammenkünfte, die sich Stück für Stück zu verschiedenen Gruppierungen entwickelten. Die repräsentativsten unter ihnen waren die, der koreanischen Christen.


Koreanische Kirchengemeinde in Bochum

In der Umgebung von Bochum fand im September 1970 in einem Wohnheim für Bergarbeiter der Zeche Erin bei Castrop-Rauxel erstmals ein kleiner Gottesdienst ohne Seelsorger statt. Dieses Datum sieht die koreanische Kirchengemeinde Bochum als Anfang ihrer Geschichte. Für weitere Gottesdienste wurde der koreanischen Gemeinde die Christuskirche in Bochum-Gerthe zur Verfügung gestellt. Anschließend beschlossen die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) und die Evangelischen Kirchen in Nordrhein-Westfalen, Verantwortung für die kirchliche Arbeit mit den Koreaner*innen zu übernehmen. Durch eine Vereinbarung über die Zusammenarbeit zwischen der EKD und dem Nationalen Kirchenrat in Korea (NCCK) wurde 1972 erstmals ein koreanischer Pfarrer ins Ruhrgebiet berufen, der in der Anfangsphase für etwa 10 koreanische Kirchengemeinden in NRW zuständig war.

1974 zog die koreanische Gemeinde von der Gerther Christuskirche in die Melanchthonkirche. Somit hatte die Gemeinde einen neuen Ort in der Stadtmitte Bochums gefunden, der den Mitgliedern den Weg in die Kirche erleichterte. Die Melanchthonkirche fungierte für die koreanische Gemeinde nicht nur als Gottesdienstort, sondern auch als ein Gebetsort, in dem Kraft und Mut gesammelt wurden, sich für Demokratie und Menschenrechte in ihrem Heimatland und gegen die in den 1970er und 80er Jahren in Südkorea herrschenden Militärdiktaturen einzusetzen. Die koreanische Kirchengemeinde initiierte verschiedene Aktivitäten wie z.B. das Sammeln von Unterschriften zur Freilassung politischer Gefangener, Demonstrationen vor der koreanischen Botschaft Bonn gegen den Deutschlandbesuch des Diktators Präsident Chun Doo-hwan und den seines Nachfolgers Roh Tae-woo in den Jahren 1986 und 1989. Außerdem organisierten sie das Sammeln von Spenden zur Ermutigung der Arbeit für Menschenrechte und Frieden in Korea. Bis heute werden jedes Jahr Spenden für hilfsbedürftige in Nordkorea gesammelt und weitergeleitet und jährlich wird eine Gedenkveranstaltung zum Gipfeltreffen zwischen den beiden damaligen Staatsoberhäuptern Koreas Kim Dae-jung und Kim Jeong-il im Jahr 2000 organisiert.

Zurzeit hat die koreanische Gemeinde etwa 100 Mitglieder, von denen ein Drittel ehemalige Bergarbeiter und Krankenschwestern, d.h. Menschen der ersten Generation sind. Die anderen zwei Drittel sind Studierende, Kinder aus Familien der ersten Generation, deutsch-koreanische Familien und Einwandererfamilien.

Recherche und Text: Min-Dju Jansen
Fotos: Alexis Rodríguez Suárez

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