German English Turkish Arabic Italian

Veröffentlicht am 14.09.2023

Im Porträt: Elif Nejla Usta | „Deswegen ist Bochum mein Zuhause. Nicht wegen der Landschaft, aber wegen des Sozialen.“

Nejla Usta, die sich selbst Elif nennt, kommt 1986 nach Deutschland. Sie engagiert sich nun seit Jahrzenten für die IFAK, sei es als Mitarbeiterin im IFAK-Kindergarten oder im Stadtteiltreff Stahlhausen. Mit Menschen zu arbeiten, nennt sie ihre Ressource, die sie stets in das gesellschaftliche Leben der Stadt einbringt. Im Interview mit unserer Teamerin Dina Purits berichtet sie von ihrem Ankommen in Deutschland, welches mit komischen Gerüchen zu tun hat, spricht über ihr Verständnis von Heimat bzw. Zuhause, über ihre bereichernden Erfahrungen in der Stadtteilarbeit, sowie über zwei wichtige Erinnerungsstücke aus ihrem Leben.

Im Porträt: Elif Nejla Usta | „Deswegen ist Bochum mein Zuhause. Nicht wegen der Landschaft, aber wegen des Sozialen.“
Von Dina Purits

Geboren wird Nejla Usta 1960 in Ardanuç. Sie ist die älteste von sechs Geschwistern. In jungen Jahren nennt sie sich selbst Elif und benutzt seitdem beide Vornamen. Der Name Elif kommt von ihrer Tante, die sie, wie auch den Rest der Familie, sehr bereichert habe, erklärt Elif. Sie berichtet, dass ihre Familie der Zeit voraus gewesen sei und trotz des Lebens auf dem Land gebildet war. Elifs Vater war Lehrer und hat immer darauf geachtet, dass alle aus der Familie viel lesen. Elif erinnert sich, ihn nur selten ohne Buch in der Hand gesehen zu haben. Auf dem Dorf können sie sich als Kinder frei entfalten. „Freie Geister waren wir!“

Nach Deutschland kommt Elif 1986 mit ihrem damaligen Mann, aus politischen Gründen und bekommen Asyl. Nach Bochum kommen die beiden, weil sie hier bereits Bekannte haben. Zwei Jahre später wird ihr Sohn Alaz und nach fünf weiteren Jahren Çaglar geboren. Das Erste, woran sich Elif bei ihrer Ankunft erinnert, ist der andere Geruch:

„Dieser Geruch hier in Deutschland. Ich weiß nicht, was das war. Von Fritteusen oder Currywurst? Ich weiß nicht, was das war. Nur, dass da sofort ein fremder und unbekannter Geruch war. Später fuhren wir mit dem Auto auf der Autobahn und ich sah immer nur diese Schilder mit der Aufschrift ‚Ausfahrt‘. Immer wieder ‚Ausfahrt‘ und ich wusste einfach nicht, was das war, eine Stadt vielleicht?“

Elifs Arbeitsleben ist sehr eng mit der IFAK verbunden. 1991 geht sie zur Arbeitsagentur, um sich arbeitssuchend zu melden und wird zur IFAK geschickt. Seitdem ist sie dort beschäftigt. Seit 1991 arbeitet sie in Bochum Stahlhausen. Zuerst in einer ABM-Stelle, später 17 Jahre lang im IFAK-Kindergarten und seit 2006 engagiert sie sich im Stadtteiltreff in der Gremmestraße.

Wie es dazu kam, erzählt sie so:

„Es gab in der Straße ein leeres Gebäude, nachdem der Verein, der vorher da drin war, schließen musste. Ich hatte aber gleichzeitig beobachtet, dass die Frauen aus der Straße immer draußen sitzen und die Kinder um sie herum wuseln. So habe ich den damaligen Geschäftsführer der IFAK gefragt, ob wir es nutzen können und er sagte ‚Ja‘. Das ermöglichte mir, mich zu entfalten. So wurde der Ort schnell zum Treffpunkt für die älteren migrantischen Frauen, deren Enkelkinder und andere Frauen aus dem Stadtteil. Bald hatte auch die ‚MB‘ (Migrationsberatung) und die ‚Integrationsagentur‘ ihre Stellen da. Auch das ‚Kitts‘, also ein Jugendtreff für jüngere Kinder war in dem Gebäude. Weil die Frauen immer mit ihren Kindern zusammen waren, habe ich mich darum gekümmert, dass das Jugendamt eine Kinderbetreuung anbietet, so dass ich mit den Frauen arbeiten konnte. Ich habe dann Projekte gemacht und Expert*innen eingeladen, zu Themen wie Depression, Stress und Psychologie. Wir haben auch kreativ gearbeitet und Holz geschnitzt, Leinwände bemalt und Steine behauen. Außerdem habe ich Frauenfrühstücke und Spielgruppen organisiert, die vom Stadtumbau finanziert wurden. Diese Stadtteilarbeit war wirklich eine Öffnung für mich. Ich konnte meine ganze Persönlichkeit und meine eigenen Ideen einbringen. Ich habe da geatmet. Mir ging es immer nur darum, Menschen zusammenzubringen und zusammen etwas zu bewirken, das Bedeutung hat.“

Bis 2012 gab es in der Gremmestraße für viele Jahre eine große leere Fläche, aber kaum Spielplätze. Elif hat die Vision, die Fläche für die Bewohner*innen des Stadtteils zu nutzen. Sie sammelt Unterschriften in einer großen Aktion und kann durchsetzen, dass auf den Leerflächen ein Spielplatz für Kinder und ein Platz mit Sportgeräten für die Erwachsenen gebaut werden.

Sabine Vogt: „Kinder können's nicht abwarten“, WAZ, 21.04.2012

Elif erklärt, dass sie in ihrem Umfeld ihre Ideen und ihre Ideale verwirklichen kann und deswegen froh sei, hier zu sein. Besonders wenn sie über die Stadtteilarbeit spricht, nennt sie als ihre Ziele gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Stärkung der Frauenbewegung. Von sich selbst spricht Elif als „internationaler Mensch“. Dabei versucht sie Kategorien wie Herkunft, Nation und Religion wegzulassen. Wenn sie über ihre Arbeit spricht, dann am liebsten über die „Frauen aus dem Stadtteil“. Elif betont, dass sie einfach mit den Frauen gearbeitet habe, die dort wohnen, unabhängig davon, wo sie herkommen. Noch immer ist sie begeistert von ihnen.

Besonders haben sie die Frauen der ersten Gastarbeiterinnen-Generation beeindruckt:

„Die Frauen waren wirklich in der Lage, ihre Ressourcen zu nutzen. Oft konnten sie nicht lesen und schreiben, aber was haben sie gemacht? Sie haben sich gefragt, was sie gut können und dann haben sie in den kleinen Gärten ihrer Zechenhäuser Kartoffeln und Bohnen und Tomaten eingepflanzt. Anstatt beim Arzt im Wartezimmer zu sitzen, arbeiteten diese Frauen in ihren Gärten und waren glücklich. Das wollte ich mir von ihnen abgucken und habe mich gefragt, was ich gut kann. Meine Stärke ist es mit Menschen zu arbeiten, also habe ich das auch gemacht.“

In zwei Jahren plant sie, in Rente zu gehen und sich dann noch mehr um ihren Schrebergarten zu kümmern, noch mehr zu lesen, zu reisen und zu stricken. Sie will auch mehr in die Türkei fliegen und zwischen ihrer Familie dort und ihrem Zuhause hier in Bochum pendeln. Sie hat den Eindruck, alles getan zu haben und möchte nun den jungen Leuten Raum geben, ihre Ideen zu verwirklichen. Sie spricht vom Loslassen, für das sie jetzt bereit ist.

Zum Thema Heimat oder Zuhause äußert sich Elif so:

„Ich habe mal einen guten Text gelesen. Da wurde gesagt, dass Heimat der Ort ist, wo man bleiben will und keine Zukunftspläne mehr macht, dass man weg will. Also, wenn ich nicht mehr sage: ‚Bald gehe ich wo anders hin.‘. Deswegen bin ich hier. Ich bin in meiner Heimat angekommen. Der Begriff ‚Zuhause‘ gefällt mir aber besser. Ich kenne hier alle Nachbarn und habe mir hier ein soziales Netz aufgebaut. Deswegen ist Bochum mein Zuhause. Nicht wegen der Landschaft, aber wegen des Sozialen.“

Seit 28 Jahren wohnt Elif im gleichen Haus in Querenburg. Als sie nach ihrer Scheidung ausziehen will, bitten sie ihre Kinder darum, die Wohnung zu behalten, weil sie dort ihre Kindheit verbracht haben.

Zum Abschluss findet Elif einen Rat für all die Menschen, die heute nach Deutschland kommen:

„Jeder soll gucken, was er oder sie für Ressourcen hat und diese in die Gesellschaft einbringen. Wer gut kochen kann, soll eben kochen. Wichtig ist, diese Ressourcen in das gesellschaftliche Leben einzubringen.“


Der Krug, das Glas und ein teurer Kochtopf

Als Elif im September 2022 zu unserer Aktion Erzähllabor & Sammlungsraum während der Interkulturellen Woche Bochum zu Besuch kommt, bringt sie uns zwei Gegenstände und eine Geschichte dazu mit, die sich ungefähr so nacherzählen lässt:

Der Krug ist ein Familienerbstück. Es ist ein Krug für die Kinder. Die Erwachsenen haben größere Krüge. Im Dorf, in dem Elif aufwächst, gibt es eine Quelle, aus der immer Wasser geholt werden muss, weil es kein fließendes Wasser gibt. Dies ist eigentlich die Aufgabe der Erwachsenen, aber weil die Kinder immer mitwollen, wird für sie dieser Krug in Handarbeit hergestellt. Seit drei Generationen haben die Kinder in Elifs Familie mit diesem Krug das Wasser aus der Quelle ins Haus getragen. Für Elif ist es ein besonderes Erbstück, weil jedes Familienmitglied seit drei Generationen diesen Krug schon mal in der Hand hatte und sie sich dadurch mit ihnen verbunden fühlt. Sie bezeichnet es als Verbindungsstück in die Vergangenheit.

Das Glas verbindet Elif mit ihrem Ankommen und Leben in Bochum. Für ihre erste Wohnung kauft Elif 1987 sechs Gläser und einen Glaskrug, ein günstiges Set aus industrieller Fertigung. Dieses eine Glas hat als letztes die vielen Jahre überstanden. Es gehört zu ihrer ersten Anschaffung hier in Deutschland. Vom Sozialamt bekommt Elif kein Geld, sondern einen Schein, mit einer Liste von genehmigten Ausgaben für ihren neuen Haushalt, mit einem jeweils angegebenen Höchstwert. Diesen Schein kann man in einigen Bochumer Geschäften einlösen. Die Rechnung geht dann an das Sozialamt. Im Bekanntenkreis hat sie für die Wohnung bereits viele Sachen geschenkt bekommen, sodass Elif einige der aufgelisteten Gegenstände nicht braucht. Beim Einkaufen fällt ihr ein hochwertiger Kochtopf auf, den sie anstatt einiger anderer Artikel gerne kaufen will. Aber weil der Kaufpreis den angegebenen Höchstwert etwas überschreitet, weigert sich die Verkäuferin erst, Elif den Kochtopf zu überlassen, mit der Aussage: „So einen teuren Topf habe nicht mal ich zuhause!“ Nach einer kurzen und hitzigen Diskussion setzt sich Elif durch und nimmt den Kochtopf mit nach Hause. Später gibt es deswegen auch keinerlei Probleme mit dem Sozialamt. Dieses Erlebnis war sehr befremdlich für Elif. Ansonsten habe sie in Bochum und andernorts selten ähnliche Dinge erlebt – Elif schätzt, dass sie bisher „mindestens achzig Prozent positive Begegnungen und Erlebnisse in diesem Land“ hatte, erzählt sie mit einem Schmunzeln auf den Lippen.

___

Interview und Text: Dina Purits
Fotos und Redaktion: Patrick Ritter

Zurück