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Veröffentlicht am 03.10.2023

Im Porträt: Gülsün Dündar | „Dersim muss man erleben, ein Leben wie ein Gedicht.“

Melisa Turan, eine unserer Teamkolleg:innen, lernten wir als Studentin beim Besuch eines sozialwissenchaftlichen Seminars der Ruhr-Universität Bochum kennen. Durch ihr persönliches und akademisches Interesse an Migrations- und Emanzipationsthemen, entwickelte sich eine Zusammenarbeit in unserem Projekt. Melisa interviewte zwei Menschen zu ihrer Biografie und ihren Lebenserfahrungen, welche sie im Laufe der Jahre in Bochum und in der näheren Umgebung machten und die sie dankenswerterweise zu teilen bereit waren. Eine dieser Frauen ist Gülsün Dündar, die nun schon seit über 35 Jahren im Ruhrgebiet lebt und die Bochumer Dersim-Gemeinde mitbegründete, die sich seit vielen Jahren vor allem im Kulturzentrum Bahnhof Langendreer trifft.

Im Porträt: Gülsün Dündar | „Dersim muss man erleben, ein Leben wie ein Gedicht.“
von Melisa Turan

Gülsün Dündar ist 1968 in der Stadt Dersim, in Südostanatolien in der Türkei geboren. Bis zu ihrem 20. Lebensjahr lebt sie in einem Dorf in der Region Dersim. Sie wächst mit den drei Sprachen Zazaki, Türkisch und Kurdisch auf. Sie erzählt von der Naturverbundenheit, den wechselnden Lebensbedingungen mit dem Wechsel der Jahreszeiten und von einem starken sozialen Zusammenhalt in ihrem Dorf. Sie beschreibt die Düfte der Erde im Frühjahr und das Schlecken an den gefrorenen Eiszapfen von den Dächern des Dorfes. „Dersim muss man erleben, ein Leben wie ein Gedicht.“, sagt sie, und sie ist sehr froh darüber, die ersten 20 Jahre ihres Lebens dort verbracht zu haben.

„Ich vergesse nie den ersten Tag an dem ich in Deutschland angekommen bin. Es war eine sehr schwere Zeit.“

Mit 20 Jahren heiratet sie und kommt mit ihrem Ehemann, Sohn einer Gastarbeiterfamilie, mit dem sie eine glückliche Ehe führt, nach Deutschland. Und zwar ins Ruhrgebiet, nach Witten, wo sie nun seit ca. 35 Jahren lebt, nach zwei Jahren wird Güsüns Tpchter dort geboren. Über diese Zeit hat sie ein Buch geschrieben und anschließend verbrannt, damit es niemand liest, vor allem ihre Kinder nicht. Sie beschreibt eine sehr schwere Zeit mit Sprachbarrieren, Sehnsucht nach ihrer Familie und der Naturverbundenheit, die sie mit ihrer alten Heimat Dersim verbindet. Ängste und Sorgen bezüglich des Anschlusses prägen diese Zeit ebenfalls.

Vor etwa zehn Jahren gründet sie die Dersim-Gemeinde in Bochum mit und freut sich sehr, dass sie und ihre Kinder über Theaterprojekte, Dersim-Festivals, Lesungen, Panels, Sprachkurse oder die anatolischen Volkstanzkurse im Verein, einen kulturellen Zugang zu ihrer eigenen Kultur aus Dersim finden. Die Gemeindearbeit und die Entstehung der sozialen Netzwerke verbindet Gülsün immer mehr mit Bochum und Witten. Für sie ist die Familie, die Verwandtschaft, die Nachbarschaft und auch ihre Muttersprache besonders wichtig, um sich im Ruhrgebiet wohlzufühlen und der Sehnsucht nach der alten Heimat Raum zu geben. Doch auch mit ihrer sonstigen Umgebung will sie weiterhin versuchen, sich zu verbinden. „Ich habe immer gekämpft und kämpfe immer noch.“, sagt sie.

Sie beschäftigt sich viel mit der Generationenfrage. Ihre Kinder seien traurig darüber, dass Gülsün ihre Muttersprache Kirmanckî (und Zazaki) nicht an sie weitervermittelt hat. Gülsün berichtet, dass sie selbst es ebenfalls bereue, den Kindern damals nur Deutsch beigebracht zu haben, aus Angst, sie könnten den Anschluss in Deutschland verpassen. Auch sei sie besorgt um ihre Enkelkinder, dass sie nur wenig von ihrem kulturellen Erbe mitbekämen.

In Gülsüns Geschichte wird für mich (Melias) deutlich, dass die Themen der Migration immer mit allgegenwärtigen Themen der Intergenerationalität und auch mit sehr großen prägenden Veränderungen im Leben einhergehen. Das gewohnte Umfeld zu verlassen und in einer fremden Umgebung Zugang zu finden, ist ein langer und prägender Prozess, betont Gülten, und ich kann es sehr gut nachvollziehen nach diesem bewegenden Interview, welches ich mit ihr im Bahnhof Langendreer führen durfte.

Youtube-Link: https://youtu.be/5Vj-tRila-Q

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Interview, Text, Übersetzung und Untertitel: Melisa Turan
Video: Sören Meffert

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