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Veröffentlicht am 02.10.2023

Im Porträt: Kazım Çalışgan | „Kunst ist nicht nur so nebenbei, es ist wirklich das Essenzielle der Gesellschaft.“

Wir stießen auf Kazım Çalışgan über mehrere Hinweise, ihn doch einmal über das Kemnade International Festival zu interviewen. Heute leitet Kazım Çalışgan das Katakombentheater in Essen - und das bereits seit 2004. Mit Bochum verbindet er - vor allem in der Zeit davor - viele prägende Erfahrungen und Erinnerungen. Und nicht zuletzt gestaltete er durch seine Programmarbeit eingige Editionen des Festivals Kemnade International wesentlich mit: In den Jahren 2003, 2005, 2007 und 2009 tat er das gemeinsam mit dem langjährigen Festivalleiter Bertram Frewer, der das Festival seit 1996 bis zu seiner heutigen Erscheinung als Ruhr International seitens des Bochumer Kulturbüros leitet und mit einer großen Veranstaltergemeinschaft organisiert. Wir trafen Kazım Çalışgan zu einem Interview im Büro des Katakombentheaters und unterhielten uns ausführlich über seinen Werdegang sowie über seine Zeit in Bochum und im Ruhrgebiet.

Im Porträt: Kazım Çalışgan | „Kunst ist nicht nur so nebenbei, es ist wirklich das Essenzielle der Gesellschaft.“
Interview: Patrick Ritter, Text: Tina Häntzschel, Video: Sören Meffert

Kazım Çalışgan wurde 1963 in Malatya, in Alwar, einem kleinen Dorf in der Türkei, ca. 600km östlich von Ankara geboren. Seine Kindheit verbringt er dort mit seinen Verwandten, da seine Eltern zu dieser Zeit bereits in Deutschland arbeiten.

„Das war eine ganz komische Zeit für mich. Ich glaube, das geht nicht nur mir so, sondern allen Kindern, die ihre Eltern nicht bei sich haben. Obwohl mein Großvater, mein Onkel und meine Tanten alles gemacht haben, damit ich mich nicht alleine fühle. Dafür bin ich sehr dankbar.“

Während seiner Kindheit in der Türkei, wird Musik für ihn zu einem zentralen Lebensinhalt. Er lernt, Saz zu spielen und wird von unterschiedlichen Meistern, welche die Familie besuchen, unterrichtet. Kazım kommt aus einer alevitischen Familie und sein Großvater ist alevitischer Geistlicher. Als sein ältester Enkel soll Kazım sein Nachfolger werden und wird dementsprechend erzogen. Musik spielt bei Aleviten eine große Rolle. Zwar ist Kazım heute Atheist, aber an die Verbindung von Religion und Musik erinnert er sich gerne als etwas Besonderes zurück.

„Das ist wie ein Gebet, also wenn man Musik macht. Man betet gleichzeitig, das ist schwer voneinander zu trennen.“

Am 12. September 1980 putschte sich das Militär in der Türkei zum dritten Mal an die Macht. Kazım berichtet von einer sehr schweren Zeit für die Menschen in der Türkei, besonders für Oppositionelle, welche zahlreich verhaftet, gefoltert oder erhängt wurden. Damals ist er 17 Jahre alt und politisch oppositionell sehr aktiv. In diesem Jahr schließt er sein Abitur in der Türkei ab und kommt zu seinen Eltern in die BRD, in die damalige Hauptstadt Bonn. Er will studieren, allerdings ändern sich genau zu dieser Zeit die gesetzlichen Bestimmungen und das türkische Abitur wird in Deutschland nur als mittlere Reife anerkannt. In dieser Zeit formieren sich in Köln und Bonn große politische Friedensbewegungen. Kazım berichtet, wie er dort Seinesgleichen findet, politisch wieder aktiv werden und Deutsch lernen kann. Es werden Zeitungen auf Deutsch und Türkisch gedruckt, Seminare und große Demonstrationen organisiert.

„In Deutschland habe ich mich eigentlich sofort angedockt an die politischen Gruppierungen. In der Türkei, wie gesagt, diese politische Bewegung damals und mit dem Putsch, da verlagerte sich alles nach Deutschland. Viele sind geflüchtet, sind abgehauen, weil die keine andere Möglichkeit hatten, sonst wurden sie verhaftet und gefoltert.“

Durch einen Zufall und die Hilfe eines Freundes kann Kazım sich schließlich immatrikulieren. Zunächst besucht er das Studienkolleg in Bonn und belegt fachspezifische Deutschsprachkurse für Soziologie. Im Studienkolleg, eine für Kazım sehr bereichernde Zeit, lernt er einen griechischen Kommilitonen kennen, welcher ihm den Musikstil Rembetiko näherbringt, der ihn von nun an sein Leben lang begleiten soll. 1983 immatrikuliert sich Kazım an der Ruhr-Universität Bochum und studiert Sozialwissenschaften. Neben verschiedenen Tanz- und Theaterprojekten, entdeckt er die politische Szene in Bochum und findet Gefallen an den anarchistischen Bewegungen.

„Da gab es damals in der Alten Bahnhofsstraße so ein Café. Da hieß es, da würden sich die Anarchisten treffen. Dann sind wir natürlich dahin gegangen. Es war so eine kleine Kneipe, da waren so viele langhaarige Leute, wie ich damals. Also, es passte gut. Und das hat mir natürlich gut getan. Ich habe die Stadt dann doch schon gemocht.“

Neben politischen Versammlungen besucht Kazım auch Kulturveranstaltungen, wie beispielsweise die zahlreichen Weltmusik-Konzerte aus der Veranstaltungsreihe des WDR Matinee der Liedersänger im Museum Bochum am Stadtpark und das Musik- und Kulturfestival Kemnade International. Während des Studiums arbeitet Kazım viel mit Jazz-Musikern zusammen. „Die waren sehr offen für außereuropäische Musik“, erzählt er. Er gründet die Band „E5“ mit Freunden, Genossen und Bekannten aus dem Studierendenwohnheim. Mit dieser Band spielt er auf vielen politischen Veranstaltungen, unter anderem auf Ostermärschen und Veranstaltungen der DKP. Schließlich wird seine Band Mitte der 1980er Jahre über einen Verein zu Kemnade International eingeladen.

„Ich fand das Festival so schön, so toll. Genau das, was ich mir eigentlich gewünscht hatte. Besser hätte ich es nicht machen können. Diese Burg oder diese Insel, wo die Leute ihre eigenen Gesetze haben können und so frei sind. […] Das Kemnade-Publikum war auch immer ein besonderes Publikum, auserlesen, sehr spezialisiert, sehr interessiert, sehr offen und auch sehr politisch.“

Auch inhaltlich setzt sich Kazım mit dem Festival auseinander, nimmt am Symposium und an Fachkonferenzen des Festivals über Migration, Kunst und Kultur teil und engagiert sich. Von nun an ist er mit seiner Band jedes Jahr auf Kemnade International vertreten. Er lernt dort auch Dimitri kennen, einen griechischen Musiker der Gruppe „Orpheus“, mit dem er anschließend 20 Jahre lang Rembetiko-Musik in unterschiedlichen Formaten machen wird.

Nach seinem Diplom 1990 arbeitet Kazım als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Medienzentrum der Uni Essen, macht Filmprojekte für den WDR und ZDF und arbeitet schließlich auch für etwa drei Jahre bei der IFAK. Einen kleinen Raum in der Engelsburger Straße gestaltet er um, zum Café Mokka mit einer kleinen Theaterbühne und organisiert dort Theaterstücke, Lesungen und Konzerte. „Sozusagen Kultur von ganz unten“, beschreibt es Kazım. Unterstützung dafür bekommt er vom Kulturbüro Bochum, worüber er auch Bertram Frewer kennenlernt. Im Jahr 2000 wird Kazım von ihm gefragt, ob er gemeinsam mit ihm die künstlerische Leitung des Festivals Kemnade International übernehmen möchte, welches nach einem Leitungswechsel neu konzipiert und aufgebaut werden soll. Kazım willigt ein und übernimmt drei Mal in Folge die künstlerische Leitung.

„Also als ich das erste Mal künstlerische Leitung gemacht habe, war alles neu für mich. Ich war sehr euphorisch. Ich wollte da wirklich viel bewegen und viel machen und schöne Sachen machen, interessante Sachen machen, bisschen Leute provozieren, auch künstlerisch provozieren. […] Bei dem Festival habe ich versucht, die Migrations-Szene widerzuspiegeln. Deswegen habe ich eine Reihe gemacht, das habe ich genannt: „Türkisch Jazz Made in Germany.“ Da habe ich meine ganzen bekannten Bands, meine ganzen Freunde, mit denen ich auch musiziert habe und darüber hinaus die große Szene im Ruhrgebiet, oder auch NRW-weit eingeladen.“

Kazım erinnert sich, dass Kemnade International eine wichtige Bedeutung für die Region, sogar für die ganze Kulturszene NRWs bekommt. Es ist ein Festival für die Menschen der Region, organisiert von zahlreichen migrantischen Vereinen nach einem basisdemokratisches Konzept. Es geht darum, dass Migrant*innen auf allen Ebenen der Planung und der Durchführung dabei sind und so die Basis des Festivals bilden. Nach seiner Arbeit für Kemnade International übernimmt Kazım 2004 das Katakomben-Theater in Essen und leitet seitdem diese inter- oder auch transkulturelle Bühne im Ruhrgebiet. Mit seiner Erfahrung und Vernetzung kreiert Kazım mit dem Katakomben-Theater einen Ort des Zusammenkommens.

„Eigentlich, das wird mir auch jetzt noch bewusster, die Arbeit, die wir hier machen, ist sehr wichtig, auch für die Gesellschaft. Dass die Menschen zusammenkommen, ohne irgendwelche Hemmnisse, ja, also diese Selbstverständlichkeit, dass die hierherkommen und sich beteiligen.“

Er bringt sich weiterhin in musikalische Projekte ein, entwickelt Transaesthetics, eine experimentelle musikalische Begegnung unterschiedlicher Künste. Kazım beschreibt, dass seine Arbeit für ihn nicht nur aufgrund seiner Erfahrung und Vernetzung in der internationalen Kulturszene leichter wird. Auch der gesellschaftliche Blick auf Migrant*innen habe sich verändert. Früher hatte er – sogar in seiner Rolle als künstlerischer Festivalleiter – selbst häufiger Rassismus erlebt und unnötig Steine in den Weg gelegt bekommen. „Natürlich gibt es da noch viel zu tun“, aber gesellschaftlich gesehen, bedeute Migration nicht mehr nur Probleme, erklärt Kazım.

„Die Gesellschaft ist so stark zusammengewachsen. Deswegen funktioniert das, glaube ich, jetzt eher. Der Begriff der Migration ist einfacher oder positiver. Früher war der Begriff sehr negativ behaftet. Ich habe das Gefühl, es ist nicht mehr so und die Gesellschaft hat sich auch ein bisschen geöffnet.“

„Nur ohne Kunst“, da gehe „überhaupt gar nichts“, sagt Kazım.



Youtube-Link: https://youtu.be/inin4QqkC_Y

Interview: Patrick Ritter
Video und Interview: Sören Meffert
Text: Tina Häntzschel

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