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Veröffentlicht am 24.09.2023

Im Porträt: Lojaina Deeb | „Ich habe mir immer gesagt, dass ich existiere, um in diesem Leben meine Spuren zu hinterlassen.“

Über einen Workshop in der IFAK-Einrichung „Alte Post“, im Bochumer Stadtteil Goldhamme, lernte unsere Teamerin Yussra Alaswad Lojaina Deep kennen. Im Interview spricht sie mit ihr über ihren bisherigen Lebensweg und über ihrer kreative Beschäftigung, die ihr seit einigen Jahren viel neue Kraft und Lebensfreude spendet. Diese Impulse möchte sie gerne auch an andere Menschen und insbesondere Frauen weitergeben und weiter Möglichkeiten finden, sich zu engagieren.

Möchten Sie erzählen, wer Sie sind?
Ich bin Lojaina Deeb, 60 Jahre alt, in Homs in Syrien geboren und habe in Latakia gelebt. Ich bin schon lange eine ehrgeizige Frau und habe Träume. Ich meine, ich habe mir immer gesagt, dass ich existiere, um in diesem Leben meine Spuren zu hinterlassen.

Ich habe an einer kaufmännischen Hochschule studiert und mich auf Rechnungswesen spezialisiert. Anschließend war ich in einem Beamtenjob angestellt und arbeitetete fast dreißig Jahre in diesem Beruf. Aufgrund des Krieges und der Umstände in Syrien musste ich auch meine Arbeit aufgegeben.

Ich und die Kinder mussten in den Libanon. Mein Mann verließ uns im Libanon und kam nach Deutschland, die Jungs und ich blieben zurück. Meine Tochter blieb in Syrien, weil sie studierte. Im Libanon habe ich einige Frauenorganisationen und -vereine kennengelernt und bei unterschiedlichen Aktivitäten teilgenommen. Und ich lernte Nähen. Da der Beruf meiner Kinder im Libanon das Nähen von Vorhängen ist und sie in ihrer Arbeit richtige Künstler sind, dachte ich, es wäre schön für mich, etwas zu lernen und ihnen dabei zu helfen. Also nahm ich an einem Nähkurs teil. Ich lernte schnell und begann, Modelle und Dinge zu erfinden und neue Ideen zu entwickeln. Ich hatte das Gefühl, als wäre dieses Talent schon lange in mir versteckt dagewesen.

Mit der Zeit wurde ich Mitglied einer Frauenorganisation und begann, Alphabetisierungsvorträge zu halten und einen Kurs über das Recycling von Dingen aus Altkleidern und die Herstellung von Kunstwerken und Gemälden zu leiten. Einige der Arbeiten, die mir am Herzen liegen, entstanden aus einer großen Anzahl von Männerkrawatten. Es wurde gesagt, dass sie beschädigt seien und dass sie sie nicht benutzen würden. Ich habe sie alle gesammelt und daraus unter anderem eine wunderbare Tischdecke genäht. Dann habe ich angefangen zu malen, obwohl ich keine Malerin bin und davor auch nicht gerne gezeichnet habe. Ich weiß nicht genau, warum ich auf einmal etwas vor mir sah, das mich dazu ermutigte, Mandalas zu zeichnen.

Nach fünf Jahren kamen meine Papiere und ich durfte dann nach Deutschland kommen. Und die Zeit im Libanon war ein Wendepunkt für mich, weil ich dort meine Talente entdeckte.



Was sind Ihre Lieblingsorte?
Einer der mir liebsten Orte in meinem Herzen ist die Stadt Homs und ihre Straßen, die Straßen mit Pflastersteinen; es gibt Bilder von Homs in meinem Kopf, die ich nie vergessen werde.

Aber ich lebte die meiste Zeit in Latakia, eine Stadt, die sich durch ihr Meer auszeichnet, Natur und Berge, auch alles wundervoll. Das Land Libanon hat auch einen großen Eindruck bei mir hinterlassen.

Was Bochum betrifft: Wir Auswanderer haben große Träume von Europa. Und tatsächlich war Bochum bisher wunderschön für mich und hat meine Vorstellungen bestätigt. Ich liebe die Form des Himmels hier sehr. Ich liebe es, den Himmel hier zu betrachten und viele Schichten darin zu sehen. Der Himmel hier unterscheidet sich von unserem Land, und das ist es, was dieses Land für mich auszeichnet.

Ich liebe die Stadt Bochum, weil sie nicht groß und kein Dorf ist. Es ist eine gemütliche Stadt und die Menschen dort sind sehr speziell und aufgeschlossen gegenüber anderen.

Wer sind die wichtigsten Menschen in Ihrem Leben?
Zunächst einmal sind es definitiv die Kinder. Ich vermisse sie so sehr und wünschte, ich hätte meine Kinder bei mir. Ich erinnere mich, dass ich zwei Freunde hatte, die mir sehr nahestanden und wir einander unser Herz öffnen konnten. Sie haben mir sehr geholfen und mich unterstützt. Aber hier in Deutschland habe ich außer meinem Mann keine engen Freunde. Er ist meine Stütze und ein sehr respektvoller, freundlicher und kooperativer Mensch mir gegenüber.

Was sind Ihre Lieblingsaktivitäten?
Ich bin ein Multitalent. Ich schöpfe aus Recycling und erfinde nützliche Dinge aus einigen beschädigten Dingen. Als kleines Mädchen liebte ich das Fahrradfahren, ich war sehr aktiv und fuhr besser als die Jungs. Vor ein oder zwei Wochen erinnerte ich mich wieder daran und fuhr Fahrrad, und ich hoffe, ich traue mich und werde es als Verkehrsmittel in der Stadt Bochum benutzen.

Wie war Ihre Reise nach Deutschland?
Nach fünf Jahren der Qual, des Wartens und der Sehnsucht kamen meine Papiere, nachdem ich fast die Hoffnung verloren hatte. Ich war glücklich, aber gleichzeitig musste ich meine erwachsenen Kinder und meine Enkel im Libanon zurückzulassen. Aber Gott sei Dank konnte ich vor ein paar Monaten dorthin reisen und sie besuchen.

Mein Mann war in Bochum und ich bin sofort in diese Stadt gekommen. Ich fühle mich hier sehr wohl. Es ist eine wunderschöne Stadt und ich denke nicht daran, jetzt wegzuziehen, es sei denn, ich finde einen sehr ruhigen Ort wie ein schönes ruhiges Dorf.

Friedenstaube, 2023, Stickerei von Lojaina Deeb, entstanden in einem Stickerei Workshop* (s. Anmerkung unten), im Stadtteiltreff Alte Post, in Bochum-Goldhamme

Was sind bisher Ihre besten Erinnerungen in Bochum?
Das Haus, in dem ich zuerst in Bochum gewohnt habe; das Haus war in Wattenscheid und die Gegend war für ältere Leute. Der Ort war besonders und schön. Mein Mann und ich waren die jüngsten Leute dort, und sie waren alle Deutsche. Am Anfang war die Beziehung zwischen uns und ihnen seltsam, dann haben wir uns aneinander gewöhnt und waren überhaupt kein Ärgernis füreinander, ganz im Gegenteil. Die Gegend hat einen guten Eindruck bei mir hinterlassen und ich besuche sie ab und zu.

Konnten Sie sich hier in Bochum weiterentwickeln?
Es gibt Dinge, die sich nicht verbessert haben. Ich fühle mich hier etwas einsam. Die allgemeine Atmosphäre hier ist schwierig, um Leute kennenzulernen. Und die Stadt schläft früh und ich bin es gewohnt, bis Mitternacht wach zu bleiben. Hier gehen Die Lichter früh aus. Dann habe ich nach etwa zwei Jahren angefangen zu lernen wie man hier mit den Zügen und Bahnhöfen zurechtkommt. Und ich habe auch einige Leute kennengelernt. Ich wollte die Sprache lernen, aber leider habe ich erst nach drei Jahren einen Platz in einem Sprachkurs gefunden. Als ich hier in Bochum ankam, schloss ich mich mit meinem Mann einer Initiative an, die gerade neu entstanden war und aufgrund von Corona nicht weitergeführt wurde. Ich besprach mit ihnen Ideen für neue Projekte, und durch Zufall habe ich von IFAK gehört und dass es bei dort auch Projekte gibt. Ich ging sofort hin, aber es dauerte ein wenig bis sie mich angenommen haben, weil die Kurse ausgebucht waren. Nach einer Weile wurde ich kreativ bei einem Stickerei Workshop mit Johanna* (s. Anmerkung weiter unten), und ich wusste, dass dies mein Platz war.

Welche Gefühle beschäftigen Sie in Bochum?
Eine Sehnsucht nach meinen Kindern und eine große Hoffnung darauf, dass jemand meine Projekte unterstützt, weil sie den alleinstehenden Frauen hier einen großen Nutzen bringen werden. Aber auch auf allen anderen Ebenen wünsche ich mir eine gute Entwicklung. Im Allgemeinen fühle ich mich hier wohl und suche nach positiven Dingen um mich herum.

Haben Sie einen Rat an Menschen, die neu in Bochum sind?
Das Leben erfordert Geduld. Wenn wir an einem neuen und fremden Ort sind, müssen wir geduldig sein und positiv denken, um uns anzupassen. Wir müssen mit den schlechten Entwicklungen im Leben umgehen lernen und sie überwinden und die Sorgen vergessen, damit unser Leben besser wird.



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Interview, Foto und Text: Yussra Alaswad
Fotos - Kunsthandwerk: Privatarchiv Lojaina Deeb


*Anmerkung:

Was bedeutet es, angekommen zu sein? Welche Bedingungen, Aktivitäten, Orte und Beziehungen sind an das persönliche Ankommen geknüpft? Welchen Hindernissen sehen sich Ankommende, insbesondere geflüchtete Frauen, in Deutschland konfrontiert?

Im Juni und Juli 2023 traf sich eine lose Gruppe von Frauen regelmäßig im Nachbarschaftszentrum „Alte Post" in Bochum Goldhamme, um sich diesen Fragen gemeinsam anzunähern. Über die kollektive Praxis des Stickens entstand eine Sammlung multipler Geschichten des Ankommens, der Solidarität, der Selbstermächtigung, aber auch der Hürden und des Scheiterns.

Das Projekt entstand auf Initiative von Johanna Köck im Rahmen ihrer Masterabschlussarbeit in Architektur an der TU Berlin.

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