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Veröffentlicht am 06.10.2023

Im Porträt: Marina Ignatieva | „Als ich im Standesamt saß, habe ich geweint. Ich weinte vor Glück.“

Dank eines Treffens, das von Dina Gorch von der Integrationsagentur Steinkuhl koordiniert wurde, konnten wir einige Mitglieder einer zweisprachigen russisch-deutschen Puppentheatergruppe kennenlernen. Eine der Personen, die wir dabei getroffen haben, war Marina. Der Austausch und die daraus entstandene Beziehung machten es möglich, dass Marina bei mehreren Gelegenheiten und Aktivitäten des Projekts Bochum - Stadt der Vielen dabei war. Um zwei Beispiele zu nennen: Sie leitete einen Lachyoga-Workshop im Projektraum während der Interkulturellen Woche Bochum 2022 oder nahm an Arbeitstreffen teil, die von Nataliya Tikhonova im Seniorenbüro Süd koordiniert wurden, wo wir auch das Interview für diesen Text geführt haben.

Im Porträt: Marina Ignatieva | „Als ich im Standesamt saß, habe ich geweint. Ich weinte vor Glück.“
von Alexis Rodríguez Suárez

Marina kam im Jahr 2000 mit ihren beiden Kindern nach Deutschland, um ihrem Mann zu folgen, der bereits seit einiger Zeit hier lebte. In Russland war sie für mehrere Jahre als Tierärztin tätig. Seit November 2021 ist sie zertifizierte Lachyoga-Trainerin. Und Marina ist ehrenamtlich im Seniorenbüro Süd tätig. Sie ist eine Frau voller Ideen und ihre Mission ist es, diese in die Tat umzusetzen.

Die frühen Jahre
Marina ist in Russland geboren, ihr Geburtsort, Magadan, liegt weit im Norden. Marina sagt humorvoll, es sei fast wie in Alaska. Genau wie in Alaska ist es auch in Magadan sehr kalt. Marina ist dort mit ihren Eltern und ihrer Schwester aufgewachsen. Ihre Kindheitserinnerungen sind sehr schön und positiv.

„Die Zeiten meiner Kindheit waren immer gut, egal wie die politische Situation war.“

Das Einzige, was Marina bedauert, ist, dass ihre Eltern sie damals nicht zum Musikunterricht geschickt haben. Sie hätte gerne Klavier oder Gitarre spielen gelernt. Stattdessen nimmt Marina im Alter von 15 Jahren in einem nahe gelegenen Dorf traditionellen russischen Tanzunterricht, bis sie 18 ist. Diese drei Jahre sind für Marina sehr wichtig, denn sie lernt etwas, das sie für den Rest ihres Lebens begleiten wird.

„Ich erinnere mich mit Liebe an all die Übungen, die ich in diesem Tanzkurs gemacht habe.“

Seitdem entdeckt Marina ihre Vorliebe für das Tanzen und auch dafür, anderen Menschen beizubringen, wie sie etwas mit ihrem Körper machen können. Marinas Vater war auch ein Liebhaber der Musik und des Tanzes, und Marina sagt mit Humor, dass sie diese Freude wahrscheinlich geerbt hat. Sie erinnert sich mit Traurigkeit und Freude daran, dass ihr Vater bis zu den letzten Momenten seines Lebens gesungen hat. Er verabschiedete sich singend, sagt Marina.

Im Alter von 18 Jahren geht sie nach St. Petersburg, um Tiermedizin zu studieren. Marina verbringt drei Jahre in der Stadt, um ihr Diplom zu erwerben. An der Technischen Universität, an der sie studiert, lernt sie auch eine Regisseurin kennen, und mit ihr macht sie immer wieder neue Erfahrungen und lernt mehr. Zu dieser Zeit ist sie noch nicht mit Puppen in Kontakt gekommen, noch nicht, sagt sie. Marina heiratet in St. Petersburg und bleibt dort, doch das Dorf, in dem ihre Eltern leben, besucht sie weiterhin gern und oft.

Zu dieser Zeit tritt Marina einem Verein bei, der Veranstaltungen zum Tanzen, Singen und ganz einfach Spaß haben, organisiert. Sie motiviert Menschen, lädt sie ein und organisiert mit anderen Menschen. So sind Veranstaltungen mit Musikern und Animationen entstanden. Vor allem die Dorfbewohner*innen kommen zu diesen Veranstaltungen.  Irgendwann muss Mariana ihre Arbeit als Tierärztin mit der Arbeit im Club verbinden. Und diese Erfahrungen der Liebe zum Tanz und zur Musik sowie die Motivation zum Organisieren werden sie auch weiterhin in ihrem Leben begleiten.

Die Entdeckung des Bochumer Lebens
Im Jahrzehnt zwischen 1990 und 2000 ist die Situation in Russland sehr schwierig, die politische Lage ist schlecht und Marinas Mann beschließt, sein Glück in Deutschland zu versuchen. Einige Zeit später schlägt ihr Mann vor, ihm mit den Kindern zu folgen. Seine Motivation ist, dass sie in Deutschland vielleicht mehr Möglichkeiten für ihre Kinder finden könnten.

„Ich mag diese Stadt. Ich war schon viele Male in kleinen Städten für meine Arbeit und ich weiß, dass ich keine großen Städte mag, deshalb mag ich Bochum.“

Als ich Marina nach den positiven Erfahrungen frage, die sie gemacht hat, seit sie in Bochum angekommen ist, sagt sie: „Nun, dann werde ich dir nichts von den schlechten erzählen, zum Beispiel dem Umgang mit dem Arbeitsamt, das ist schrecklich.“

Die Sprache, die die Behörden sprechen, ist nicht Deutsch, sagt Marina. Es ist sehr schwierig, das Leben zu beginnen, wenn man nur wenig Deutsch spricht und sich mit bürokratischen Angelegenheiten beschäftigen muss, ohne zu verstehen, was sie von einem wollen. Es kommen immer mehr Briefe an, die in einer Sprache geschrieben sind, die du nicht verstehst. Mit komplizierten Wörtern. Jemand muss dir helfen, sie zu interpretieren, damit du weißt, wie du sie beantworten kannst. Leider macht Marina eine sehr unangenehme Erfahrung mit einer Beraterin in einer Behörde, die sehr unfreundlich ist. Immer wenn Marina diese Beraterin besucht, redet sie sehr schnell mit ihr. Trotz Marinas Aufforderung, langsamer und deutlicher zu sprechen, bleibt sie bei ihrer schnellen und komplizierten Sprechweise. Bis Marina keine andere Wahl mehr hat, als zu sagen: „Ich verstehe nichts“. Auf diese Weise erhielt Marina Zugang zu Deutschkursen.

Aber es gibt nicht nur schlechte Nachrichten: Marina findet eine Stadt „voller Hilfe, für Kinder, für Flüchtlinge (...) verschiedene Angebote für Sprach- und Berufskurse“, sagt sie. Diese sind jedoch nicht für alle zugänglich, so wie es eben auch Marina zu Beginn ihres Aufenthalts erging. Sie hatte keinen Zugang zu einem Sprachkurs. Am Anfang musste sie die Kurse selbst bezahlen, sie machte die Kurse in der VHS und erreichte drei Niveaus. Erst 3 Jahre später bekam sie Zugang zum Integrationskurs. Und schließlich macht sie die B1-Prüfung. Marina fühlt sich nicht bereit, weiter Deutsch zu lernen. Die B2- oder C1-Kurse verlangen ihr viel Geld, Zeit und Mühe ab, für die sie nicht die nötige Motivation aufbringen kann. Ihr Freundes- und Bekanntenkreis besteht hauptsächlich aus russischsprachigen Menschen, sodass sie ein Umfeld findet, in dem sie sich wohlfühlt.
Heute jedoch könnte ihr Enkelkind, das hier geboren wurde und hauptsächlich Deutsch spricht, eine Motivation für weiteres Lernen sein. Eine weitere Motivation sind die verschiedenen Theaterprojekte, bei denen sie die Texte ihrer Rollen oder die Texte der Lieder, die sie singt, lernen muss. Seit mehreren Jahren ist Marina Mitglied eines Chors, der auch zu den Aktivitäten von IFAK gehört, und hat dort gelernt, Lieder auf Deutsch zu singen.

„Es ist eine gute Variante, Deutsch zu lernen, durch Lieder, durch Theater, nur Tanz ist eine internationale Sprache (sie lacht).“

Kunstprojekte in Bochum
Wie Marina in die Puppengruppe kommt, ist eine Geschichte, die mit verschiedenen Angeboten zu tun hat, die die Integrationsagentur Querenburg (mit Standort in Steinkuhl) von IFAK zu bieten hat. Marina besucht den Integrationskurs und gleichzeitig den Chor. Eines Tages fragt Dina Gorch, die Leiterin der Integrationsagentur Steinkuhl, Marina, ob sie gerne die Rolle des Rotkäppchens spielen würde. Und Marina sagt: „Ich?“ Es ist eine Hauptrolle und zu dieser Zeit war die Gruppe klein und sie waren dort nur zu viert. „Und Dina übersetzte den Text und wir begannen, ihn auf Deutsch zu lernen.“

In Marinas Leben gibt es heute mehrere Orte, die wichtig geworden sind. Die Integrationsagentur Steinkuhl, wo sich die Puppengruppe trifft, das Seniorenbüro Süd, wo wir dieses Interview geführt haben, und die Hustadt, wo Marina an verschiedenen Aktivitäten beteiligt ist, darunter die Tanzgruppe.

Marina ist eine Frau, die mit neuen Ideen aufwacht und immer wieder neue Wege für die Arbeit mit dem Körper lernt. Ihre letzte zertifizierte Ausbildung ist die zur Lachyoga-Trainerin und seit Januar 2022 versucht sie sich als Kursleiterin in der Stadt.



Pläne für die Zukunft

Marinas Pläne für die Zukunft sind vielfältig und immer kollektiv. Die Zusammenarbeit mit anderen ist der Weg, um ihre Ziele zu erreichen. Eine Reihe von Shows, Nachbarschaftsfesten, Konzerten und Workshops stehen auf Marinas Plan.

Eine von Marinas Empfehlungen an alle ist es, viel zu lachen. Und sie weiß, dass das nicht immer einfach ist, wenn man so viele schwierige Dinge durchmacht, aber sie hat gelernt, dass Lachen hilft, die Seele zu erhellen und die Kraft zu finden, weiterzumachen.

Ein Objekt und seine Geschichte
Als ich Marina frage, ob ihr ein Gegenstand einfällt, den sie mit einer wichtigen Geschichte in ihrem Leben in Deutschland in Verbindung bringen kann, wählt sie dieses Ringkissen und schreibt den folgenden Text in ihrer eigenen Handschrift:

„Dies ist ein Eheringkissen. Ich habe es für meine Tochter gemacht, als sie geheiratet hat. Das war 2015, sie war 29 Jahre alt. Im Standesamtszimmer saß ich und weinte. Ich weinte vor Glück, dass ich eine so schöne Tochter habe. Die Hochzeitsfeier war lustig. Ich war Moderatorin, es gab sehr viel Humor. Das Brautpaar war glücklich. Es gab viele Gäste und auch viel leckeres Essen und lustiges Tanzen. Meine Tochter hat die Hochzeitshalle selbst in Blau Weis geschmückt und ich habe ihr dabei geholfen. Leider haben sich getrennt. Aber die Erinnerungen an diesen Tag sind hell und warm geblieben.“

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Interview, Text, Fotos: Alexis Rodríguez Suárez

 

 

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