German English Turkish Arabic Italian

Veröffentlicht am 04.10.2023

Im Porträt: Naci Köylüusagi | „Heute bin ich überzeugt, dass die Liebe und die Kultur die Menschen verändern und zusammenbringen können.“

Für unser Projekt wurde Naci Köylüusagi ein wichtiger Partner – nicht nur, weil wir von ihm selbst eine besondere Lebensgeschichte geschenkt bekamen, sondern auch weil er selbst als Interviewer für uns aktiv wurde, mit einem empathischen Blick auf vier seiner Bekannten und Wegbegleiter*innen, mit denen er zum Teil über die Mitarbeit bei der IFAK oder über die gemeinsame Erfahrung als Chormitglied beim Bochumer Emek-Chor verbunden ist. Naci Köylüusagi ist zudem Diversity-Trainer und seit 2020 gewähltes Mitglied des Integrationsausschusses der Stadt Bochum. In diesem Interview berichtet er von seiner Kindheit in der Türkei, vom Ankommen und Leben in Bochum sowie von seinen zahlreichen politischen und ehrenamtlichen Tätigkeiten für eine transkulturelle, vielfältige Gesellschaft.

Im Porträt: Naci Köylüusagi | „Heute bin ich überzeugt, dass die Liebe und die Kultur die Menschen verändern und zusammenbringen können.“
Tina Häntzschel und Patrick Ritter

Naci wurde 1960 in Karaman in der Türkei geboren. Durch einige Zufälle und besondere Lebenswege seiner unmittelbaren Vorfahren (zum Beispiel sprang sein Großvater als junger Mann während des ersten Weltkrieges in Adana kurz vor der syrischen Grenze vom Zug und blieb dort, um dem Militärdienst zu entgehen), lebte er mit seiner Familie ab seinem fünften Lebensjahr schließlich in Karaman. Als kurdische Familie war das Leben auf dem Land nicht immer leicht, berichtet Naci.

„Im Dorf waren wir als Kurden bekannt. Immer wenn sie uns beleidigen wollten, war deine Identität wichtig für sie. Sonst bist du einer von denen, aber wenn es Ärger gab oder Streit, dann warst du der dreckige, brutale Kurde.“

Nacis Mutter war Hausfrau und kümmerte sich um die sechs Kinder der Familie. Sein Vater war zunächst in einem Textilgeschäft tätig, was der Familie ein gewisses Ansehen einbrachte.

„Mein Vater war ein feiner Mann und hat sich immer sehr schick gemacht. Er hat die Kleidung im Textilgeschäft häufig selbst anprobiert und jedes Parfüm auch erstmal bei sich benutzt. […] Früher im Dorf hatte er in seinem ‚Tante-Emma-Laden‘ das erste Radio in der Gegend. Alle Leute sind zum Radio hören immer zu uns gekommen. Das heißt auch, das Geschäft lief immer gut.“

Naci besuchte das Gymnasium in Karaman und interessierte sich ab 1975 für die politischen Geschehnisse in der Türkei. Zu dieser Zeit seien sogar die Kinder früh politisiert gewesen. Dementsprechend waren die Kinder der Sozialdemokraten häufig links und die der konservativen Familien zumeist politisch rechts verortet, was zu einer Bildung von verhärteten Fronten bereits in der Schule führte, erinnert sich Naci. Die Konflikte in der Gesellschaft eskalierten und nahmen bürgerkriegsähnliche Zustände an, welche 1980 in den Militärputsch in der Türkei mündeten. Zu dieser Zeit lebte Naci bereits in Deutschland und erfuhr, dass viele seiner Freunde verhaftet und im Gefängnis zum Teil gefoltert wurden. Er war dieser Verhaftungswelle durch seine Entscheidung nach Deutschland zu gehen knapp entkommen. 1978 erhielt Naci die Zulassung zum Studium in Ankara, aber sein Vater war aufgrund der schwierigen politischen Verhältnisse dagegen.

„Mein Vater hat gesagt: ‚Du kannst hier nicht studieren. Täglich sterben in den Großstädten so viele Menschen und es gibt einen richtigen Bürgerkrieg. Du kannst nach Deutschland gehen. Da haben wir einen Onkel, der dir helfen kann und dort kannst du studieren. Hier hast du keine Chance. Du kommst entweder in den Knast oder stirbst.‘“

Naci wollte zunächst nicht nach Deutschland, wollte seine Freund*innen und Genoss*innen in den Kämpfen gegen den Faschismus weiterhin unterstützen. Schließlich willigte er doch ein und kam 1979 nach Dortmund zu seinem Onkel, der zu dieser Zeit als Schweißer in der Stahlindustrie tätig war. Es gab keine Visumspflicht, so genügte für die Einreise zunächst die Anmeldebescheinigung an einer Sprachschule. Die spätere Aufenthaltserlaubnis hingegen war mit sehr viel Bürokratie verbunden und musste alle paar Monate verlängert werden. Gemeinsam mit der Familie seines Onkels lebten sie beengt im Arbeiterviertel am Dortmunder Hafen. Naci erinnert sich lachend, dass sie hinter einem Bordell wohnten, wo er manchmal eine Abkürzung daran vorbei nehmen musste.

„Die Zeit im Dortmunder Norden war sehr interessant. Ich hatte noch nie so eine bunte Gesellschaft gesehen. In der Türkei, besonders in unserer Stadt, war alles sehr homogen. Aber am Hafen im Dortmunder Norden war es griechisch, türkisch, ex-jugoslawisch, italienisch und, und. So kunterbunt.“

Nach seiner Ankunft in Deutschland blieb Naci weiterhin politisch aktiv. Er wurde schnell Teil von Initiativen, welche politisch Verfolgte unterstützten. Es wurden Spenden-Kampagnen ins Leben gerufen, um Genoss*innen aus der Türkei und dem Libanon nach Europa zu helfen. Naci half vielen Menschen beim Übersetzen und bei Behördengängen. Bis heute ist er politisch aktiv, um sich gegen Krieg und Menschenrechtsverletzungen einzusetzen. Die Geschehnisse in der Türkei um 1980 fielen zeitlich mit einigen anderen Konflikten auf dem Globus zusammen. So erlebte Naci wie sich insbesondere im Ruhrgebiet viele Menschen unterschiedlicher Herkunft austauschen und sich in großen Teilen miteinander solidarisierten.

„Wir nahmen an internationalen Veranstaltungen teil, haben Infostände aufgebaut, da lernten wir dann auch andere Initiativen kennen. Damals war der Krieg in Nicaragua, El Salvador, Guatemala sehr aktiv. Viele Initiativen solidarisierten sich mit den Befreiungskämpfen in Lateinamerika. Und im Iran […] haben die Mullahs, die Religiösen die Macht erobert und es kamen dann viele Iraner auch ins Exil. […] Das war die erste große Welle, die Flüchtlingswelle von politisch Verfolgten.“

Über viele Jahre besuchte er auch das damalige Festival Kemnade International. Hierzu berichtet er im Interview nicht nur über die politischen Debatten, sondern auch übers Feiern und ein vermutlich längst verjährtes Kavaliersdelikt über das er heute lacht:

„Mit meinem Freund bin ich immer hinten rum über den Fluss, da waren immer so Lücken, da sind wir illegal reingegangen in das Schloss zum Fest. Wir hatten ja immer wenig Geld. Drei Tage haben wir Tag und Nacht gefeiert.“

Als Naci 1979 in Dortmund ankam, belegte er Sprachkurse und musste im Studienkolleg seine Fachhochschulreife nachholen, da das türkische Abitur nicht anerkannt wurde. Zwei Jahre nach seiner Ankunft in Dortmund durfte er schließlich studieren und schrieb sich anfänglich für Maschinenbau ein, was ihm allerdings nicht zusagte. Zudem wurden er und die wenigen anderen ausländischen Studierenden zu dieser Zeit an der Hochschule von einigen Studierenden ausgegrenzt und von den Dozenten kaum unterstützt, mit Ausnahme eines Lehrenden, der sich für sie einsetzte.

Die unangenehme Lage gipfelte für Naci darin, dass er durch einen offen rassistisch eingestellten Dozenten bei einer wichtigen Prüfung kaum eine Chance sah, die Prüfung bei ihm zu bestehen. Seine Bemühungen beim Dekan, von jemand anderem geprüft zu werden, liefen ins Leere und Naci sah sich gezwungen, etwas anderes zu studieren. Er wechselte zum Fach Architektur, das er später innerhalb der Regelstudienzeit mit dem Diplom abschloss. Danach folgten noch zwei Jahre Aufbaustudium im Bereich Städtebau.

„Das war eine ganz andere Welt. Die Dozenten waren ganz anders, die Studenten solidarisch, offen, locker, freundlich. Da war ich auch erfolgreich und nach vier Jahren habe ich ja auch erfolgreich abgeschlossen. Da habe ich festgestellt, also unter Repressionen [wie zuvor, Anm. d. Verf.] kann man nicht erfolgreich sein.“

Während seiner Studienzeit war Naci stets dem Druck der Ausländerbehörde ausgesetzt, welche mitunter willkürlich die Aufenthaltserlaubnis für drei oder sechs Monate anstatt für mindestens ein Jahr verlängerte. Zusätzlich entfiel zu dieser Zeit die finanzielle Unterstützung seiner Familie. Durch Stipendien für ausländische Studierende (einen Teil von der Katholischen und einen Teil von der Evangelischen Studentengemeinde) und Nebentätigkeiten als Übersetzer konnte er sich über Wasser halten.

„Ich habe während dieser Übersetzer-Tätigkeit hauptsächlich mit fünf Anwälten in der Flüchtlingsarbeit gearbeitet, auch ehrenamtlich zum Teil. Da habe ich sie zur Ausländerbehörde, zum Bundesamt, zum Gericht begleitet und da übersetzt, in Strafsachen oder bei Wohnungssuche, bei der Anmeldung - überall. Ich habe gesehen, wie schlimm sie behandelt wurden und konnte mich manchmal nicht beherrschen. So erkannte ich die Dimensionen des strukturellen Rassismus in Deutschland.“

Sein letztes Geld gab Naci oft für Kultur oder Veranstaltungen aus. Das Erlernen der Sprache bildet für ihn einen zentralen Zugangsschlüssel zur Gesellschaft, ebenso wie die Teilnahme am kulturellen Leben. „Wenn man am kulturellen Leben nicht teilnimmt, dann existierst du hier nicht, dann gibt es dich hier nicht. Dann lebst du in einer Parallelwelt“, erklärt Naci. Nebenbei arbeitete er im Theater, knüpfte beständige Freundschaften und lernte neue Perspektiven kennen, welche in ihm die Liebe zur Kunst und Kultur wiedererweckten.

„Heute bin ich überzeugt, dass die Liebe und die Kultur die Menschen verändern und zusammenbringen können. Das wäre auch ein wichtiger Beitrag zur Entstehung einer transkulturellen Gesellschaft.“

Der Theaterbühne ist Naci auch in Bochum bis heute treu geblieben. Seit vielen Jahren ist er im Kultur- und Theaterhaus Thealozzi als Schauspieler aktiv und engagierte sich dort bei zahlrechen Aktivitäten des Hauses. An das ehemalige Leitungspaar Axel Walter und Gudrun Gerlach denkt er voller Dankbarkeit für ihr kulturelles Wirken und die gemeinsamen Erfahrungen zurück. Eine lange Freundschaft hatte sie miteinander verbunden.

1988 kam Nacis Bruder nach Deutschland und lebte mit seiner Frau in Dahlhausen, was Nacis erste Verbindung zu dem Stadtteil war, in welchem er heute noch lebt. Schließlich zog er in eine große WG nach Bochum Dahlhausen, war dort politisch mit der Regenbogen-Initiative aktiv, welche soziale sowie politische und interkulturelle Stadtteilarbeit leistete, und lernte dort auch seine Frau Friederike kennen. Friederike Müller ist heute die Geschäftsführerin des Vereins IFAK e.V.

Bis 1985 dachte Naci, er würde nach dem Studium in die Türkei zurück gehen. Später wurden „Heimat“ oder „Zuhause“ für ihn Begriffe, die er nicht mehr mit der Türkei verband. Naci fühlt sich wohl in Dahlhausen, er schätzt die Solidarität der Bevölkerung und den friedlichen Umgang mit Migrant*innen. „Alle Menschen müssen da leben, wo sie sich wohlfühlen.“ Naci erklärt, dass die daraus entstehende Diversität in der Gesellschaft keine Belastung, sondern einfach eine Bereicherung sei.

„Ihr müsst euch daran gewöhnen. Neue Deutsche sehen so aus wie ich, oder wie meine Tochter oder ihr Freund, der halb Schwarzer Deutscher ist und die keine andere Heimat gesehen haben als Deutschland. Man muss dieses Bild löschen, in diesem neuen Einwanderungsland, in einer heterogenen Gesellschaft. Da sehen die Deutschen jetzt anders aus. Blond und blauäugig ist nur ein Teil.“

Naci berichtet, Rassismus und Diskriminierung früher insgesamt weniger, dafür punktuell extremer gespürt zu haben als heute. Diskriminierungserlebnisse von Menschen mit Migrationsgeschichte gebe es heute viel mehr, trotz großer Solidarität. Heute seien alle mehr sensibilisiert, was damals nicht der Fall gewesen sei und weshalb unterschwelliger Rassismus vielleicht nicht richtig wahrgenommen wurde. Heute habe man verstanden, was Rassismus ist, und man lässt es sich auch nicht mehr gefallen, erklärt Naci. Besorgniserregend sei allerdings, dass heute Hetze organisierter und bis in die Mittelschicht gelangt sei.

„Ich bin heute sogar froh, dass ich mal alle diese Erfahrungen mit Rassismus und Diskriminierung gemacht habe. Das kann ich nun professionell in meinem Beruf als interkultureller Trainer und Diversity-Management-Coach umwandeln und in der Zukunft in der Praxis nutzen.“

Naci formuliert als innigen Wunsch und Lebensziel, weiterhin aktiv gegen Krieg und Menschenrechtsverletzungen vorzugehen und sich beruflich wie auch privat für eine transkulturelle, vielfältige Gesellschaft einzusetzen. Darüber hinaus nimmt das Lebensglück seiner Familie einen sehr hohen Stellenwert für ihn ein. Dem möchte er weiterhin seine Zeit und Energie widmen.  

___


Interview: Patrick Ritter
Text: Tina Häntzschel und Patrick Ritter
Fotos: Emelyn Yábar

Zurück