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Veröffentlicht am 23.07.2023

Im Porträt: Rita Schacht | „Wir sind am 19. August 1997 in Bochum angekommen und ich denke, dass dies unser letzter Ort sein wird. Ich bin hier sehr glücklich und zufrieden.“

Rita Schacht ist in Kasachstan geboren und aufgewachsen und kam im Sommer 1997 nach einem kurzen Aufenthalt in einer anderen Stadt nach Bochum. Sie kam mit ihrem Mann, ihren drei Kindern und ihrem Schwiegervater nach Bochum.

Im Porträt: Rita Schacht | „Wir sind am 19. August 1997 in Bochum angekommen und ich denke, dass dies unser letzter Ort sein wird. Ich bin hier sehr glücklich und zufrieden.“
von Alexis Rodríguez

Sie zogen in eine Wohnung in der Zillertaler Straße im Bochumer Norden. Sechs andere Familien zogen zur gleichen Zeit in dasselbe Gebäude ein. Die Wohnung war klein, zwei Zimmer und eine Küche. Die Ausstattung war minimal, d.h. Betten und Decken. Sonst nichts. Zusammen mit einigen Nachbarinnen und Nachbarn gelang es ihnen, Möbel und Geschirr, das sie auf der Straße fanden, zu sammeln. Ein ganzes Jahr lang lebten sie mit der Familie unter schwierigen Bedingungen in der kleinen Wohnung, und trotz allem ist Rita stolz darauf, die Widrigkeiten überwunden zu haben und hier zu sein.


“Ich komme aus einem Dorf und dachte immer, alles sei toll, viele Leute sagen mir, dass sie zurück wollen. Ich sage, bitte, ich will nicht!”


Die Ankunft in Bochum war schwierig. Die Stadt Bochum ist ein ganz anderer Kontext als das Dorf, in dem sie bis dahin gelebt hat. Die Sprache, die Infrastruktur, die Bürokratie sind einige der Herausforderungen, denen sich Rita bei ihren ersten Schritten in Bochum stellen musste.
Eine Anekdote, die diese Schwierigkeiten sehr gut veranschaulicht, ist der Unfall, den Ritas Schwiegervater an seinem ersten Tag in Bochum erlitt. Während Rita und ihr Mann Lebensmittel einkauften, blieb der Großvater mit den Kindern im Park. Er stolperte über einen Ast, fiel hin und verletzte sich. Als Rita und ihr Mann zurückkehrten, fanden sie eine Szene von Weinen und Schrecken vor. Der Großvater wurde ins Krankenhaus gebracht, und glücklicherweise gab es keinen größeren Schaden. Ritas Mann musste vom Krankenhaus in der Bochumer Innenstadt zurück zur Zillerstraße laufen, die ganz in der Nähe der Grenze zur Stadt Herne liegt. Obwohl das Krankenhauspersonal ihm freundlicherweise gesagt hatte, dass er mit der U-Bahn bis zur Haltestelle Rensingstraße fahren könne, hatte Ritas Mann nicht nur Schwierigkeiten, die Wegbeschreibung auf Deutsch zu verstehen, sondern wusste auch nicht, was die U-Bahn ist. Der Unfall hatte unzählige Fahrten zwischen Krankenkasse und Sozialamt zur Folge. Rita erzählt, wie sie die Sachbearbeiter bat, auf einem Zettel aufzuschreiben, was sie von der anderen Einrichtung benötigten. Trotz Ritas wichtiger Rolle als Organisatorin für die eigene Familie und der Bedeutung ihrer Sprachkenntnisse, entschieden die Sachbearbeiter, dass sie keinen Deutschunterricht benötigte. Rita ist heute der Meinung, dass dies mit dem Rollenverständnis der Sachbearbeiter gegenüber ihr als Hausfrau zu tun hatte, da ihre Kinder noch klein waren und sie bis zu deren Einschulung für die Erziehung beziehungsweise Care-Arbeit zuständig war.


Ritas Mann begann bald nach seiner Ankunft in Bochum Deutsch zu lernen und zu arbeiten. Rita hingegen, begann zu arbeiten, als ihre Kinder eingeschult wurden. Sie arbeitete viele Jahre lang in einer Reinigung. Heute ist sie im Ruhestand, aber Rita ist immer noch aktiv und arbeitet ehrenamtlich im Seniorenbüro im Stadtteil Querenburg mit. Den ersten Kontakt zur IFAK hatte Rita durch das Angebot einer Beratung. Rita brauchte Hilfe bei der Erledigung von Papierkram, sie war in einem Beratungsgespräch bei der IFAK mit einer Person, die sich nach Ritas Situation erkundigte und herausfand, dass Rita wegen der Kinder einen Job brauchte, der flexibel war und kürzere Arbeitszeiten hatte. Das Seniorenbüro benötigte zu diesem Zeitpunkt Unterstützung, und so begann sie dort zu arbeiten.

Bild: Alexis Rodríguez Suárez


Zum sozialen und alltäglichen Leben in Bochum erzählt Rita, dass die sechs Familien, die zur gleichen Zeit ankamen und ein Jahr lang Nachbarn in der Zillertalstraße waren, so viele Erlebnisse miteinander teilten, dass dauerhafte Freundschaften entstanden sind.


“Ich habe immer noch Kontakt zu diesen Familien, besonders mit zwei von ihnen sind wir immer noch sehr eng verbunden, wir treffen uns fast jedes Wochenende in unserem Garten oder gehen zu ihnen. Wir haben eine Freundschaft.”


Die Beziehung zu diesen sechs Familien diente auch als Netzwerk der Unterstützung, des Informationsaustausches und des Aufbaus eines Lebens in Bochum. Dank dieses Netzwerks begann Rita, verschiedene Orte, Veranstaltungen und Räume in ihrer Gemeinde kennenzulernen. Rita erzählte uns vor allem von den Neujahrsfeiern, die von einer russischen Familie im Stadtteil Werne, ganz in der Nähe der Haltestelle Werne Amt, organisiert werden. Ein weiterer wichtiger Gemeinschaftsraum für Rita ist die Puppentheatergruppe, die sich regelmäßig in den Räumen der Integrationsagentur Steinkuhl im Stadtteil Querenburg trifft. Seit mehreren Jahren ist sie Teil dieser Gruppe, die aus Mitgliedern unterschiedlicher Herkunft besteht, die aber alle eine Verbindung zu slawischen Sprachen haben. Die Gruppe führt Puppenspiele auf Russisch und Deutsch auf. Rita bedient nicht die Puppen, sondern unterstützt die Gruppe mit Musikeinspielungen, mit Requisiten und anderen kreativen Aufgaben in dem Kollektiv.

Ein ganz besonderer Moment in Ritas Geschichte in Deutschland war das Wiedersehen mit ihren Schulkameradinnen und -kameraden im Jahr 2003 anlässlich ihres 30-jährigen Schulabschlusses, den sie in Kasachstan machte. Rita organisierte ein gemeinsames Treffen in Baden-Württemberg für die in verschiedenen deutschen Städten verstreut lebenden Menschen und aktivierte Netzwerke und Kontakte, um möglichst alle zu erreichen. Rita erzählt, dass sie ein Essen organisierten und eine tolle Zeit zusammen hatten. Einige Leute fragten sie, wann das nächste Treffen stattfinden würde, worauf Rita antwortete: “Ich habe meinen Wunsch erfüllt, dieses Treffen zu organisieren und zu ermöglichen, jetzt liegt es an euch, das nächste zu organisieren.”


Rita ist seit mehr als 25 Jahren in Bochum und wird manchmal von Menschen, die ihr nahe stehen, gefragt, ob sie nach Kasachstan zurückkehren möchte. Sie sagt, dass einige ihrer Verwandten dort auf dem Friedhof liegen, aber in Wirklichkeit haben sie nichts, wohin sie zurückkehren könnten. Sie weiß, dass der Ort, den sie verlassen hat, nicht mehr existiert. Die meisten Menschen, die sie kennt, sind nicht mehr dort. Was ihre Zukunft in Bochum angeht, so ist sie sehr zufrieden mit der Entwicklung ihrer Familie, den Aktivitäten und dem Leben, das sie führt. Das Einzige, was ihr in ihrem Leben als Rentnerin manchmal Sorgen bereitet, ist die schnelle Art und Weise, in der die Technologie soziale Interaktionen ersetzt. Ein Beispiel: Um einen Arzttermin zu bekommen oder ein bestimmtes Büro zu erreichen, musste man früher telefonieren, und heute muss man junge Leute bitten, einem bei einer Aufgabe zu helfen, die früher eine einfache menschliche Kommunikation war.


Als ich Rita frage, was sie aus ihrer Erfahrung heraus anderen Neuankömmlingen in Bochum empfehlen würde, sagt sie:

"Ich kann sie verstehen. Und ich weiß, dass es oft schwierig und schmerzhaft ist. Wir müssen geduldig sein mit der Situation, in der man sich befindet, aber nicht in der Opferrolle verharren, sondern aktiv anfangen, Möglichkeiten zu schaffen.”

Bild: Alexis Rodríguez Suárez

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Interview, Text und Fotos: Alexis Rodríguez Suárez

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