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Veröffentlicht am 12.07.2023

Im Porträt: Růžena Škodová-Davoodi | „Ohne nette Menschen geht das nicht, wenn man in ein fremdes Land kommt. Das ist einfach das A und O.“

Růžena Škodová-Davoodi, geb. Škodová (*1948 in Chomutov, Tschechoslowakei), studiert bis 1969 in Prag. Wegen des Überfalls der sowjetischen Armee muss sie das Land verlassen, bevor die Grenzen geschlossen werden. Ihre nächsten Stationen sind Bramsche (in Niedersachsen), Osnabrück, Bochum, Hattingen und schließlich kommt sie wieder „nach Hause nach Bochum“. Im Interview erzählt sie uns von den verschiedenen Episoden ihres Lebens. Durch ihre zahlreichen Interessen wie Schach, Basketball, Mathematik, Politik und Malerei, die sie jeweils mit sehr viel Engagement betrieb und durch ihre besondere Fähigkeit, sich in ihre jeweils neue Umgebung einzubringen, ergab sich eine bewegte Lebensgeschichte, die auch eine besondere Geschichte dieser Stadt wurde.

Wir lenten Růžena in unserem Erzähl-Labor während der Interkulturellen Woche Bochum 2022 kennen. Der folgende Text basiert auf einem Video-Interview (s. ganz unten) und einem weiteren Nachgespräch.

Růžena wird 1948 in Chumtov in der ehemaligen Tschechoslowakei geboren. Sie wächst in Prag auf, besucht die Schule und beginnt dort auch ihr Studium in Maschinenbau. Ihre Zeit in der Tschechoslowakei beschreibt sie als politisch sehr bewegt – besonders zur Zeit ihres Studienbeginns. In ihrer Familie wird stets über politische Themen gesprochen. Ihr Vater, welcher damals als Lehrer arbeitete, wird aufgrund seines politischen Engagements zwei Mal an andere Schulen strafversetzt. Erst im höheren Alter wird er als politisch nicht mehr gefährlich eingestuft und Ruhe kehrt in sein Leben ein – bis Růžena mit ihrem damaligen Lebenspartner das Land verlässt. Ihre Eltern und andere Menschen aus ihrem Umfeld werden daraufhin schikaniert und zu Verhören herangezogen. „Das ist das Übliche, was sich da abgespielt hat. Das war immer so.“, erzählt sie in einem unserer Gespräche. Glücklicherweise lassen die Schikanen aber bald wieder nach.

 

Bild: Studentischer Fahrausweis für den Prager Nahverkehr, 1969.

Mit ihrem damaligen Mann, Otto Borik, einem erfolgreichen Schachspieler (und Schachautor) flüchtet sie im Nachgang der gewaltsamen Niederschlagung des Prager Frühlings (Vgl. Dossier Prag 1968, Bpb.de, 22.08.2018) durch die sowjetische Rote Armee in die Bundesrepublik Deutschland, einige Zeit bevor die Grenzen der Tschechoslowakei für einige Wochen geschlossen werden. Zu dieser Zeit studiert sie im vierten Semester Maschinenbau in Prag. Über eine Einladung des Schachvereins ins niedersächsische Bramsche (nahe Osnabrück) zu einem Turnier hatten die beiden eine Ausreisegenehmigung nach Deutschland erhalten und bleiben nach dem Turnier schließlich dort. Ihre Ankunft in Deutschland erfolgt am 26. September 1969. In Bramsche wird das Paar sehr freundlich aufgenommen und erhält Unterstützung in allen Lebenslagen. Růžena und Otto spielen in den folgenden Jahren sehr erfolgreich für den dortigen Schachverein.

Während ihrer Zeit in Bramsche arbeitet sie zunächst als Hilfsarbeiterin in einer Fabrik und später in einem Architekturbüro als Bauzeichnerin. Auch an ihren späteren Wohnorten arbeitet sie in diesem Bereich.

Bild: „Frl. Skodova Verbandsmeisterin“, Zeitungsausschnitt, circa 1970

Bild: Schachspiel beim Verein Bochum SG 31, in der ehemaligen Kneipe „Lehmkuhle“ in der Präsidentstraße, Bochum-Hamme.

1973 erfolgt der Umzug nach Bochum. Beim Bochumer Verein SG 31 ist Růžena, wie schon in Bramsche, die einzige Frau im Schachverein. „Das war für die Leute hier exotisch. In der Hinsicht war Deutschland im Vergleich zur Tschechoslowakei schon noch sehr rückschrittlich“, erzählt sie. „Und da wollen Sie tatsächlich Schach spielen?“, wird sie anfangs von einem der renommierten Spieler des Vereins herablassend gefragt. Ihre späteren Erfolge lassen die Kritiker allerdings verstummen. 1973 gewinnt Růžena die Schach-Einzelmeisterschaft Nordrhein-Westfalens der Frauen in Brilon, während ihr damaliger Ehemann gleichzeitig die Einzelmeisterschaft der Männer gewinnt.

Das Schachspielen ist über viele Jahre ein wichtiger Lebensinhalt für Růžena. Viele ihrer sozialen Kontakte verdankt sie den Begegnungen in den Vereinen, auch mit einigen Frauen der Spieler freundet sie sich an. Die vielen Begegnungen helfen ihr auch sehr beim Deutsch-Lernen. „Wenn man mitten im Spiel oder danach emotional über das Spiel spricht, ist es egal, ob du mit oder ohne Akzent sprichst." Dieses Lockere beim Sprechen hilft dir, die Sprache zu lernen, erzählt sie.

In Bochum studiert sie seit 1975 – allerdings nicht weiter Maschinenbau – sondern sie will ihre Leidenschaften Mathematik und Sport zum Beruf machen. Der Sport bringt ihr manche Einkommensquellen als Trainerin ein. Nach ihrer Promotion 1987 in der Mathematik arbeitet sie bis zu ihrer Rente als Informatikerin. Besonders in dieser Zeit lernt Růžena sehr viele Menschen in Bochum kennen. Auch mit der Frau ihres Doktorvaters ist Růžena bis heute befreundet. (Ihre Doktorarbeit trägt den Titel: "Unteralgebren der Lie-Algebren und Untergruppen der Bewegungsgruppe des elliptischen Raumes", Bochum, Univ., Diss., 1987.)

Neben ihren vielen anderen Tätigkeiten spielt Růžena für viele Jahre auch auf hohem Niveau Basketball. 1972 steigt Růžena mit der Frauenmannschaft des TSV Osnabrück in die Bundesliga auf.  Später spielt sie noch viele Jahre in der Frauen-Basketballmannschaft des VFL Bochum. Jahrzehnte später, 2005 bis 2009, gewinnt sie außerdem jährlich mit dem Düsseldorfer Team Mixed Oldies die deutsche Basketball Meisterschaft der Top Oldies.

Bild: Basketballmannschaft des VFL Bochum, Trainingshalle der Goetheschule, circa 1976, Nr. 7.

Wie bereits anklang, ist Růžena ein sehr politischer Mensch, vielleicht nicht zuletzt, weil ihr persönliches Leben mit vielen historisch bedeutsamen Ereignissen eng verknüpft ist – und das nicht nur mit dem Prager Frühling.

Nach der Trennung 1979 von ihrem vorherigen Ehemann kommt Růžena 1980 bis '89 mit dem Vater ihrer beiden Kinder (eine Tochter und ein Sohn) zusammen, der nach der islamischen Revolution aus dem kurdischen Teil des Irans als Flüchtling nach Deutschland bzw. Bochum kam. Sie leben zunächst im Studentenwohnheim „Grunewald“, mit der gleichnamigen Kneipe daneben, im Bochumer Süden. Dort wohnen zu dieser Zeit viele iranisch-stämmige Studierende. Dementsprechend gibt es dort viele politische, z.T. hitzige Diskussionen unter den Iraner*innen, erinnert sie sich. 1985 zieht die Familie dann mit den Kindern nach Bochum-Langendreer.

1990 lernt Růžena ihren dritten Ehemann im Arbeitsumfeld kennen. Und im Herbst 1990 (nach dem Mauerfall 1989) konnte man wieder ohne Visum in die Tschechoslowakei einreisen. Růžena reist mit ihrem Mann und mit ihren Kindern wieder zum ersten Mal nach 21 Jahren nach Prag zu ihrer Familie. Ihr Eindruck: „Mir war gleichzeitig alles total fremd und trotzdem vertraut. Ich musste mich ganz neu orientieren.“ Äußerlich sei vieles im Vergleich zu ihrer Erinnerung etwas heruntergewirtschaftet gewesen, und die Kinder hatten bei ihrer Ankunft abends in Prag etwas Angst gehabt, alles sei so dunkel, wegen der sparsamen Straßenbeleuchtung, erzählt sie. Aber ansonsten hatte sie den Eindruck, dass es den Menschen gut erging.

Von 1990 an lebt Růžena mit ihren Kindern für einige Jahre in Hattingen und geht weiter ihrer Arbeit als Informatikerin nach. 2008 zieht sie wieder zurück „nachhause nach Bochum“, wo sie so viele Verbindungen aufgebaut hat. Sie zieht nach Bochum-Griesenbruch. Anfangs ist sie irritiert über das damals etwas schlechte Image des Viertels. Über die Jahre tut sich dort viel, Straßen und Häuser werden saniert. Und sie freundet sich zunehmend mit ihrer Umgebung an und sagt: „Mir gefällt das hier, weil es hier sehr bunt ist.“ In Bezug auf ihre Kinder ist Růžena damals stets wichtig, ihnen zu vermitteln, dass sie in Deutschland geboren sind und dieses Land dadurch ihre Heimat sei, sie also Deutsche seien, „die im positiven Sinne eine kulturelle Vielfalt in sich tragen“, sagt sie rückblickend.

Über ihren Sohn Schoresch, der lange Zeit bei den Jusos in Hattingen und Bochum aktiv war, ist sie dem lokalen politischen Geschehen schon seit vielen Jahren recht nah. Als ihr Sohn dann 2016 zur Piratenpartei wechselt, interessiert sie sich auch sehr für die Inhalte und wird 2017 ebenfalls Parteimitglied. Zu der Zeit trifft sich die Bochumer Piraten-Partei in der Kneipe „Casa Kuba“ in der Rottstraße. Ihr Engagement wird immer intensiver – und auf dem Landesparteitag der Piratenpartei Baden-Württemberg im November 2021 in Reutlingen wird sie als eine von vier stellvertretenden Vorsitzenden in den Landesvorstand der Piratenpartei Baden-Württemberg gewählt. Im März 2023 wird sie für zwei weitere Jahre wiedergewählt. Weil die Piratenpartei in Deutschland im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern relativ wenige Mitglieder hat und man sich personell untereinander aushilft, ist das politische Engagement von Růžena und ihrem Sohn Schoresch in Baden-Württemberg nichts Ungewöhnliches. „In einer kleinen Partei ist man sehr stark aufeinander angewiesen.“, sagt Růžena – und: „Wir sind eine politische Familie, auch durch meine Herkunft.“ Trotz vieler Aufenthalte in Baden-Württemberg und der Beschäftigung mit der dortigen Politik, möchte sie in Bochum bleiben. „Im Ruhrgebiet fühle ich mich sehr wohl. Die Buntheit der Menschen ist in Baden-Württemberg so nicht vorhanden.“

Ob in Bramsche, Osnabrück, Hattingen oder Bochum - Růžena hatte häufig Glück, auf Menschen zu treffen, die ihr wohlgsonnen waren, wodurch ihr eigenes Engagement wertgeschätzt wurde und sich etwas daraus entwickeln konnte. Im Interview bringt sie dies auf eine treffende kurze Formel: „Ohne nette Menschen geht das nicht, wenn man in ein fremdes Land kommt. Das ist einfach das A und O.“

Seit etwa 2017 beschäftigt sich Růžena auch intensiv mit der Malerei. Zwar habe sie auch früher schon viel gezeichnet, aber seit einigen Jahren nimmt sie auch Kurse zu verschiedenen Maltechniken. Insbesondere gefallen ihr Aquarell-Techniken. „Das lebt. Da kannst du Planschen, das Papier ist immer anders, die Farben auch.“ Seit 2019 ist sie Mitglied in der Deutschen Aquarell-Gesellschaft. Und aktuell (Juli 2023) wird eines ihrer Bilder in Bologna in einer Ausstellung gezeigt. Ihre Kunst nutzt sie auch, um die Bochumer Initiative MALIKOoperation zu unterstützen. Hierfür porträtierte sie nach Fotovorlagen beispielsweise die beiden Spieler*innen der malinesischen Basketball-Nationalmannschaft der Frauen: Touty Gandega und Kadiatou Kanouté.

 

Frauen in Mali - Entschlossenheit, 2023
Bild für die Ausstellung „Motive aus Mali“, ein Projekt der MALIKOoperation
Aquarell 31x41, Saunders WATERFORD, grain fin

Frauen in Mali - Stärke, 2023
Bild für die Ausstellung „Motive aus Mali“, ein Projekt der MALIKOoperation
Aquarell 36x47, Arches, grain fin, 300g/m²

Wasserspiele im Stadtpark Bochum, 2023
Aquarell 21x29,7
Clairefontaine grain moyen fin, 300g/m²

Hier geht es zum Video Interview:

Link: https://youtu.be/AzQIa-gh-_8

Interview und Text: Patrick Ritter
Video und Interview: Sören Meffert

 

 

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