German English Turkish Arabic Italian

Veröffentlicht am 04.10.2023

Im Porträt: Ulvi Taşdemir | „Wir, als Türken und Kinder der ersten Einwanderer, haben hier einen wichtigen wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Beitrag geleistet. […] Etwas Neues ist entstanden.“

Naci Köylüusagi interviewte Ulvi Taşdemir im März 2023 zu seinem Leben und Ankommen in Bochum. Ulvi ist 1966 im heutigen Kayadüzü, einem kleinen Dorf in der Türkei, geboren. Sein Vater ist damals als Gastarbeiter nach Bochum gekommen und holte die Familie zu sich, als Ulvi 8 Jahre alt war. Nach einem schweren Start in Deutschland, fand er Rat und Hilfe bei der IFAK e.V. und ist bis heute als Vorstandsmitglied ein wichtiger Teil des Vereins.

Im Porträt: Ulvi Taşdemir | „Wir, als Türken und Kinder der ersten Einwanderer, haben hier einen wichtigen wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Beitrag geleistet. […] Etwas Neues ist entstanden.“
von Naci Köyülüsagi

(Triggerwarnung: Im folgenden Interview wird u.a. von körperlichen und emotionalen Gewalterfahrungen berichtet.)

Ich heiße Ulvi Taşdemir. Meine Mutter hat mich Ülvi genannt. Es hörte sich etwas niedlicher an. Erst viel später erfuhr ich, dass ich Ulvi heiße. Der Name Ulvi bedeutet „der Erhabene“. Ich musste meinem Namen gerecht werden. Es war eine schwierige Aufgabe. Mein Onkel hatte mir diesen Namen ausgesucht. Im Dorf lebten wir mit den Onkeln und den Großeltern im selben Hof zusammen. Die Namen der Kinder werden gemäß der Tradition meistens von den Onkeln oder Verwandten bestimmt, nicht von den eigenen Eltern. Der Name Ulvi ist ein seltener Name. Die Bedeutung hatte ich erst später durch Bücher erfahren.

Seit fünf Jahren arbeite ich von Montag bis Freitag bei Thyssenkrupp. Ich stehe morgens um 5:20 Uhr auf und um 5:30 Uhr sitze ich bereits im Auto. Ich putze nur die Zähne und schaue in den Kühlschrank, was ich zum Essen mitnehmen kann. Meistens höre ich die ersten Nachrichten um 5:30 Uhr im Radio an. Dann arbeite ich von 6:00 Uhr bis 13:30 Uhr. Danach dusche ich mich auf der Arbeit und bin so gegen 14:00 Uhr zu Hause. Ich habe bei Thyssen eine Ausbildung als Dreher abgeschlossen und arbeitete fast 30 Jahre in dem Bereich. Als ich einer Nierenoperation unterzogen wurde, habe ich damals eine ärztliche Bescheinigung bekommen, dass ich keine Schichtarbeit mehr leisten darf. So arbeite ich nun seit fünf Jahren in der allgemeinen Service-Abteilung. Ich prüfe Leitern, Regale und Stufen usw. und zertifiziere sie mit TÜV. Die Stimmungen unter den Arbeitskollegen sind unterschiedlich. Manchmal hat man einen guten Tag und ist kollegial, manchmal nicht. In dem Team sind meistens Leute mit Schwerbehinderung oder welche, die kurz vor der Rente stehen, also ältere Menschen. Wir sind insgesamt 18 Personen und davon drei türkische Mitarbeiter. Ich bin auch gewerkschaftlich aktiv, als Vertrauensmann. Das sind gleichzeitig meine sozialen Tätigkeiten. Ich bin mit meiner Arbeit zufrieden. Ich sehe sie vor allem als Einkommensquelle, womit ich meine Familie ernähren kann.

Nach der Arbeit lege ich mich hin und schlafe etwas. Danach gehe ich bei gutem Wetter mit meiner Frau spazieren. Einmal in der Woche mittwochs gehe ich mit Freunden bei DIDF (=Föderation demokratischer Arbeitervereine e.V.) Tischtennis spielen. Alle zwei Wochen arbeite ich bei der IFAK e.V. als Vorstandsmitglied.

Manchmal schauen wir abends gemeinsam einen Film bei Arte oder 3Sat, welchen ich vorher über mein Handy aussuche. Oder ich gehe in mein Zimmer und lese Bücher oder mache mit der Saz Musik. Ich lese seit 15 Jahren die Bücher, die mich interessieren, nur auf Deutsch, weil ich festgestellt habe, dass ich danach flüssiger sprechen und meinen Wortschatz erweitern kann. Seit letztem Jahr fahre ich Fahrrad. Sonst reise ich sehr gerne. Meine Frau und ich lieben das Meer und die Sonne. Ich möchte mich im Urlaub erholen, aber auch neue Orte entdecken. Daher fahre ich jedes Mal in einen anderen Ort. In letzter Zeit beschäftigt mich die Luftverschmutzung und der Umweltschutz. Wenn ich fliege, verschmutze ich damit die Luft. So mache ich mir Gedanken. Auf der anderen Seite sehe und erkenne ich durch die Reisen, wie schön unsere Welt, Berge und Landschaften sind. Da wird mir bewusst, dass wir diese Erde zu schätzen wissen und schützen müssen. Es sind so widersprüchliche Gedanken.

Mein Sohn lebt zur Zeit in Hamburg und hat dort eine neue Beziehung. Von der ersten Beziehung hat er zwei Kinder, Neomi und Ilay, die hier in Bochum leben. Er kommt alle zwei Wochen donnerstags nach Bochum und wohnt dann mit seinen Kindern bei uns. So sind wir alle zwei Wochen zu Hause mit den Kindern und Enkelkindern. Sonst verbringen wir die Wochenenden mit Besuchen oder Treffs mit sieben anderen Familien im gemeinsamen Schrebergarten. Oder wir machen einen Ausflug.

Wie bereits erwähnt, bin ich verheiratet und habe zwei Kinder – einen Sohn, Selim, 34 Jahre alt und eine Tochter, Melissa, 34 Jahre alt. Meine Tochter wohnt hier in der Nähe und hat selbst eine Tochter. Ich übernehme für meine Enkelkinder Verantwortung und beschäftige mich gerne mit ihnen.

Ich bin 1966, laut dem Standesamtsregister 15.07.1966 im Dorf Kücük Belvar von Amasya-Merzifon in der Türkei geboren. Heute heißt das Dorf Kayadüzü. In Wirklichkeit bin ich am 23. oder 25. Februar geboren, laut meiner Mutter. Die Kinder wurden in der Regel viel später angemeldet, wenn die Familie sich sicher war, dass sie überleben. Es gab bei uns einen Kohle-Bergbau, in Çeltik. Mein Vater war Köhler, bzw. hat mit einer Pferdekutsche durch die Dörfer fahrend Kohle verkauft. In unserem Dorf lebten 16 Familien. Es war ein alevitisches Dorf. Auf der anderen Seite des Flusses befand sich ein kurdisches Dorf. Sie waren Sunniten und hatten eine Moschee. Wir, die Kinder aus umliegenden Dörfern, gingen alle in die Schule in Havza der Provinz Samsun. Ich bin zwei Jahre in die Schule gegangen. Ich habe die erste Klasse wiederholt. Ich musste meine Schwester in die Schule begleiten, da der Schulweg gefährlich war. So bin ich frühzeitig ohne Anmeldung in die Schule gegangen. Wir hatten einen großen Klassenraum, in dem alle Klassen von der ersten bis zur fünften Klasse in dem gleichen Raum Unterricht hatten. Ich saß in der ersten Klasse ganz hinten. Wir mussten Kohle zum Heizen in die Schule bringen. Es wurden an alle Lokum (Süßigkeit) und Kekse verteilt. Es gab nicht viel von den Keksen, immer nur einen pro Person. Manchmal erhielt ich von meiner Mama 10 Groschen mit Loch, damit konnte ich mir einen Lutscher leisten. Ansonsten hatte ich mit Geld keine Berührung.

Mein Vater war 1972 nach Deutschland ausgewandert. Ich kann mich kaum an etas Genaues dabei erinnern. Im Allgemeinen hatte ich im Dorf eine wunderbare Kindheit. Unser Dorf lag zwischen den Bergen, sehr grün und trotzdem unweit vom Schwarzen Meer. Ich lebte bis zum achten Lebensjahr, 1974, im Dorf. Die 16 Familien im Dorf waren alle miteinander verwandt. Ich spielte gerne mit meinen Cousins. Wenn du bei uns im Dorf auf den Friedhof gehst, liest du auf den Grabsteinen nur den Namen Taşdemir, keinen anderen. Wenn es vorkommt, dann war es eine eingeheiratete Person.

1974 holte mein Vater meine Mutter und uns vier Geschwister nach Deutschland. In Deutschland bekamen meine Eltern noch ein weiteres Kind. Mein Vater hatte bis dahin in einem Gastarbeiter-Wohnheim gewohnt. Zuerst hatte er im Bergbau in Hamm gearbeitet. Das gefiel ihm nicht, unter der Erde zu arbeiten. Er bekam Angst. Danach erhielt er durch die Vermittlung eines Freundes einen Arbeitsplatz bei Krupp in Bochum. Wenn mein Vater zum Urlaub zu uns in die Türkei kam, hatte er den typischen Hut auf und trug im Arm einen kleinen Kassettenrekorder. So kann ich mich daran erinnern, dass er in Deutschland lebte, bzw. arbeitete. Er blieb einen Monat im Dorf, und ich war darauf sehr stolz. Trotzdem kann ich mich an meinen Vater wenig erinnern. Wir hatten kein enges Verhältnis. Zu meiner Mutter hatte ich dagegen eine warme und liebevolle Beziehung. Wir lebten im Dorf mit den Geschwistern in einem Raum.

Meine Mutter ging mit uns zu einem Hamam (wie Sauna) mit dem Namen Aslan agzi (Löwenkopf) in Havza, in einem von uns sechs Kilometer entfernten Dorf. Sie nahm mich immer zum Frauen-Hamam mit. Ich hatte meine Mutter immer nach den Geschlechtsorganen der Frauen gefragt. Meine Mutter versuchte krampfhaft mich aufzuklären. Irgendwann beschwerten sich die anderen Frauen, warum ich als Junge immer mitgebracht wurde. Eine der schönsten Erinnerung dabei ist, dass mich meine Mutter nach der Sauna in den Park mitnahm, wo auch ein Wochenmarkt stattfand und kaufte dort Trauben und Brot. Wir saßen im Park und aßen gemeinsam genüsslich.

Als wir für die Ausreise nach Deutschland mit den Vorbereitungen begonnen hatten, fuhren wir nach Merzifon, um Passfotos machen zu lassen. Wir sind mit einem Bus nach Istanbul gefahren, anschließend mit einer Fähre. Das war meine erste lange Reise bis dahin. Dann sind wir von Istanbul nach Deutschland geflogen. Als wir ankamen, wurden wir von meinem Vater, der einen Freund mit einem Auto VW-Käfer organisiert hatte, abgeholt. Wir, mit vier Geschwistern und meiner Mutter, saßen hinten, und mein Vater und sein Freund vorne. Dabei hatten wir noch mehrere Gepäckstücke im Auto untergebracht. Mein Vater hatte für unterwegs Bananen und Coca-Cola mitgebracht. Er sagte uns, wir sollen die Bananen schälen. Wir probierten die Bananen und Cola, und fanden sie ekelhaft. Wir konnte das essen und nicht trinken. Selbst ein Stück Schokolade hat uns damals nicht geschmeckt. Sie war zu süß. Wir hatten bis dahin keine Bananen gesehen und keine Cola getrunken. Wir hatten im Dorf nur natürliche, gesunde Sachen gegessen. Es hat sehr lange gedauert, bis ich Schokolade gegessen habe.

Zuerst wohnten wir in der Riemker Straße 73 in Bochum. Es war eine kleine Wohnung mit 2,5 Zimmern, im Hinterhof mit Flachdach. Es gab kein Kinderzimmer. Der Boden im Hof war mit Kohlestaub bedeckt, es war alles grau. Es gab zu der Zeit zu viel Bergbau. Damals gab es keine weißen oder bunten Häuser. Es war für mich ein großer Schock: Du kommst von grünen Landschaften und Bergen und hier ist alles grau und schmutzig. Dazu kommt noch, dass ich kein Deutsch sprach. Die Nachbarn im Hof waren fast alle nur Deutsche. Ich hatte später einen deutschen Jungen namens Thomas aus der Nachbarschaft kennengelernt. Ich habe dann angefangen mit Hilfe von Thomas Deutsch zu lernen. 1974 bin ich in die Schule in der Von-der-Recke-Straße in die zweite Klasse gegangen. Das war eine Vorbereitungsklasse, welche nur aus türkischen Kindern bestand. Unser Lehrer hieß Kamil Dogan. Wie sollten wir so Deutsch lernen, wenn die Kinder und der Lehrer nur Türkisch sprechen, und wir keinen Kontakt zu den deutschen Schüler*innen hatten? Man dachte damals, wir wären kurzfristig in Deutschland und würden bald wieder die Rückreise in die Heimat antreten. Deswegen gelang es nur wenigen türkischen Kindern, eine Berufsausbildung abzuschließen, geschweige denn ein Studium. Oft nahmen die Kinder bei ihren Vätern eine Arbeit auf. Das gleiche Schicksal wiederholte sich. Oft waren die Lehrer nicht kompetent genug. Manche der türkischen Lehrer waren streng nationalistisch, sodass wir Militärmärsche singen mussten und manche waren sehr religiös, sodass wir in der Klasse beten mussten. Später war ich auf der Hauptschule. Das war normal. Man war froh, wenn man nicht auf der Sonderschule gelandet war. Wenn man schlecht Deutsch sprach, wurde man zur Sonderschule verwiesen. Dort saßen türkische Kinder, die schlecht Deutsch sprachen zusammen mit den Kindern, die geistige Behinderungen hatten. Man wollte irgendwie die Sonderschulen vollkriegen. Später ging ich in die Pestalozzi-Schule. Hier waren überwiegend Kinder mit Migrationshintergrund. Es herrschte nur Chaos. Man konnte nichts lernen. Nach der neunten Klasse wurde ich in die 10b versetzt, mit Qualifikation. Nach dem Abschluss der zehnten Klasse wurde ich ins Goethe-Gymnasium versetzt. Ich wollte weiter zur Schule gehen. Mein Vater verhinderte das. Er sagte: „Wer soll denn deine Bildung finanzieren?“ Meine Mutter kann nicht lesen und schreiben. Mein Vater hatte nur vier Jahre lang die Schule besucht, kann gerade etwas schreiben oder lesen. Er hat aber noch nie ein Buch oder eine Zeitung in der Hand gehalten. Er denkt, man soll nur lernen, wenn man damit gutes Geld verdienen kann. Die Bildung ist für ihn Zeitverschwendung.

Es ist mir sehr schwergefallen, die Schule abzubrechen. Außerdem war mein Vater psychopatisch veranlagt. Er war gewalttätig. Mir gegenüber nicht, dafür waren meine Geschwister und meine Mutter von der körperlichen Gewalt betroffen. Ich habe mit acht Jahren gemerkt, dass mein Vater psychisch nicht gesund war. Er war grausam. Er hieß Salim – Zalim passte besser zu ihm (übersetzt bedeutet Zalim nämlich „der Grausame“). Für mich und meine Geschwister war es schwierig zu verstehen, warum er so brutal war, weil wir alle unsere Mutter sehr liebten. Wir bereuten es, dass wir das Dorf verlassen mussten und nach Deutschland gekommen waren. Leider war meine Mutter von ihm in jeder Hinsicht abhängig. Sie hatte kein eigenes Einkommen, konnte nicht lesen und schreiben. Es gab damals niemanden, der oder die ihr helfen oder sie beraten konnte. Selbst die Polizei mischte sich nicht in die Ehestreitereien ein. Wir liebten den Vater nicht. Es gab sogar Zeiten, wo wir überlegt hatten, ihn umzubringen. Er lebt nicht mehr. Ich habe nicht an seiner Beerdigung teilgenommen. Ich habe auch nicht an der Beerdigung meiner Mutter teilgenommen, weil sie vor meinem Vater starb, und ich ihm nicht begegnen wollte. Mein Vater kehrte 1990 zusammen mit meiner Mutter und meinem jüngsten Bruder für immer in die Türkei zurück. Das war eine unverantwortliche Entscheidung. Die letzten Jahre meiner Mutter in der Türkei waren eine Hölle.

Eines Tages in der Schule machten wir einen Ausflug in die Stadtbibliothek. Dort entdeckte ich die türkisch-sprachigen Bücher. Die Bücher haben mich in die anderen Welten versetzt. Ich entspannte mich beim Lesen. Als ich 13 Jahre alt war, hatte ich bei unserem Türkei-Urlaub das Instrument Saz kennengelernt. Mein Cousin spielte Saz und wollte es mir auch beibringen. Ich habe ein Saz nach Deutschland mitgenommen. Das gefiel meinem Vater wieder nicht. Er mochte nicht, dass ich Saz spielte und er mochte nicht, dass ich viele Bücher las. Ich las viele Romane. Die Romane von dem Autor Fakir Baykurt, der das Leben der Bauern in Anatolien erzählte, gefielen mir besonders. Manche Nachbarn erzählten, dass ich durch das viele Lesen den Verstand verlieren oder mich den Anarchisten anschließen würde.

Ich las unter anderem den Roman von Fakir Baykurt „Die Rache der Schlangen“. Er erzählt von dem grausamen Leben der Bauern in Anatolien. Das Buch gefiel mir sehr. Da meine Mutter häufig beim Lesen störte, überlegte ich mir, wie ich ihr den Roman schmackhaft machen könnte. Ich machte ihr einen Vorschlag, dass ich ihr zunächst nur zehn Seiten von dem Roman vorlesen würde. Dann sollte sie sich entscheiden, ob ich weiter vorlesen sollte oder nicht. Meine Mutter war damit einverstanden. Am Anfang hatte ich den Roman einfach so vorgelesen, wie in der Schule. Ich merkte, dass das meine Mutter nicht begeisterte, oder sie nicht beteiligt war. Am nächsten Tag hatte ich beschlossen, das Vorlesen theatralischer und szenisch zu gestalten, kräftiger zu betonen und auf die Punkte und Kommata viel mehr zu achten. Dann fing ich an den Roman vorzutragen. Meine Mutter war jetzt von der Geschichte sehr begeistert. Jeden Nachmittag sagte sie: „Komm mein Sohn, ich habe meine Hausarbeit erledigt, wir können mit dem Roman weitermachen.“ Später hatte meine Mutter angefangen, in einem Kurs lesen und schreiben zu lernen. Dann konnte sie tatsächlich ihren Namen schreiben oder unterschreiben usw. Sie war auch sehr stolz auf meine Tochter, da sie studiert hat und Ärztin wurde.
Nachdem meine Schulbildung durch meinen Vater verhindert wurde, hatte ich einen Ausbildungsplatz bei Krupp als Schmied bekommen, habe mich aber nach sechs Monaten für eine Ausbildung als Dreher entschieden. Die Ausbildung war eine Mischung aus Praxis, Schule und Werksschule. Die Werksschule des Betriebes war sehr kompetent. Damals gab es die Werksschule nur bei uns, bzw. bei Thyssen und bei Opel. Ich konnte meine Ausbildung nach zweieinhalb Jahren beenden, mit der Begründung, dass ich heiraten würde. Ich war 19 Jahre alt. Dann konnte ich mit der Arbeit beginnen. Das Zimmer, in dem wir gerade sitzen, gehörte zu Krupp und das Zimmer der Geschäftsführerin der IFAK, Friederike Müller, war das Personalbüro, in dem ich damals meinen ersten Arbeitsvertrag unterschrieben habe. So habe ich 30 Jahre gearbeitet, im Vier-Schicht-Betrieb. Es war eine sehr schwere und langweilige Arbeit. Daher musste ich mein soziales Leben außerhalb der Arbeit mit Kultur und meinen Hobbys kompensieren. Ich habe Saz gespielt und im Chor „Baris“ (Frieden) gesungen. Daneben habe ich noch etwas Theater gespielt. Das Defizit in meiner Bildung versuchte ich mir durch Bücher über Geschichte und Kultur beizubringen.

Meine Frau und ich haben zwischenzeitlich eine sehr schwierige Ehezeit gehabt. Heute sind wir glücklich. Meine Oma verlobte mich im Türkei-Urlaub mit meiner Cousine Ceyhan, als wir gerade 13 Jahre alt waren.

Als wir wieder nach Deutschland zurückkehrten, sollte ich Ceyhan Briefe schreiben. Ich weiß heute nicht mehr, was ich geschrieben habe. Ich schrieb ihr einmal im Monat, manchmal alle zwei Monate. Das war die schlimmste Phase meines Lebens, zwischen dem 13. und dem 19. Lebensjahr, bis zur Heirat. Als ich mit der Ausbildung begonnen hatte, ließ ich mich als ledig eintragen, weil ich mich dafür zu sehr schämte. Obwohl ich aufgrund der Ehe viele finanzielle Vorteile hätte genießen können, sagten meine Freunde. Erst nach der Aufnahme einer Arbeit gab ich meine Ehe zu. Es war eine Zwangsehe.

Als ich 17 Jahre alt war, hatten meine Eltern unsere Eheschließung vollzogen, damit ich meine Frau später nach Deutschland holen konnte. Ich konnte die Situation einfach nicht fassen und mit keinem darüber sprechen. Als der Standesbeamte mich aufforderte, den Ehevertrag zu unterschreiben, weigerte ich mich erst. Meine Verlobte tat mir sehr leid, sie konnte ja auch nichts dafür. Ich habe am Ende unterschrieben. Nach zwei Jahren sind wir in die Türkei in den Urlaub gefahren, um die Hochzeit zu feiern. Vor der Hochzeitsfeier war ich mit einem Bus nach Istanbul abgehauen. Wir hatten dort einen Verwandten, der Polizist war, ich bin zu ihm gegangen. Während der 12-stündigen Reise im Bus habe ich nur geweint. Dann bin ich zurück ins Dorf gefahren. Ich konnte das Leben meiner Verlobten, die mit mir seit sechs Jahren verlobt war und mich liebte, nicht zerstören. Das wäre sehr verantwortungslos gewesen. Wir haben die Hochzeit gefeiert und sind zusammen nach Deutschland gekommen. Es waren sehr schwierige Jahre für uns beide. Ich wurde depressiv. Wir hatten beide eingesehen, dass es unrecht war, die Hochzeit über unsere Köpfe hinweg zu entscheiden.

Wir hatten damals gute Kontakte zur IFAK. Meine Frau hatte auch gute Beziehungen zu einigen Frauen, welche wegen ähnlicher Probleme geschieden waren und durch die IFAK beraten wurden. Meine Frau sagte irgendwann, dass sie so nicht mehr weiterleben kann und sich scheiden lassen möchte. Sie hatte Recht, so konnten wir unser Eheleben nicht mehr fortführen. Ich hatte beschlossen, eine Therapie zu machen. Ich machte zwei Jahre Einzeltherapie. Es hat mir sehr geholfen. Ich hatte gelernt, wie ich mit dem Kind in mir umgehen und wie ich meiner Großmutter verzeihen kann. Ich konnte mir vieles erklären und damit umgehen. Ich war 40 Jahre alt. Dann konnte ich wieder neu mit meinem Leben beginnen. Ich hatte ein besseres Verhältnis zu meinen Kindern und meiner Frau. Ich konnte offen mit meiner Frau über alles sprechen. Dafür bin ich und auch meine Frau der IFAK sehr dankbar. Es ist auch der Grund, warum ich heute im IFAK-Vorstand bin. Ich versuchte zu reflektieren: Wenn ich als Mann, in einer solchen Situation, es nicht schaffe, aus der Krise rauszukommen, wie sollten die Frauen es schaffen, denen ein ähnliches Schicksal beschieden war. Daher war die IFAK eine große Stütze für die Frauen. Damals hatte die IFAK einen schlechten Ruf, der Verein würde die Ehen zerstören und Frauen dazu anstacheln, ihre Männer zu verlassen usw.

Heute kann ich Menschen, die neu nach Deutschland gekommen sind, sagen, dass man hier viele schöne Sachen erleben und viel erreichen kann, dafür aber zuerst die Sprache lernen muss. Das ist der Schlüssel für den Zugang zu Gesellschaft, Bildung und Kultur. Man sollte sich ohne Vorbehalte oder Vorurteile an die Deutschen annähern. Ich fühle mich hier zu Hause. Ich kann sagen, dass ich hier angekommen bin. Ich bin gegen Nationalismus und religiösen Fanatismus jeder Art. Ich bin heute ein überzeugter Atheist. Außerdem interessiere ich mich für Politik und bin auch gewerkschaftlich aktiv. Ich finde, man sollte Politik dort machen, wo man lebt.

Natürlich müssten hier die Barrieren für die Integration gesetzlich und gesellschaftlich weiter verbessert werden. Wir, als Türken und Kinder der ersten Einwanderer, haben hier einen wichtigen wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Beitrag geleistet. Es hat sich hier dadurch viel entwickelt, viel verändert und etwas Neues ist entstanden. Darauf sollte man stolz sein. Wir haben ein vom Faschismus zerstörtes Deutschland zusammen aufgebaut.  

____

Interview und Verschriftlichung: Naci Köyülüsagi
Bilder: Miguel Angel Castillo
Redaktion: Tina Häntzschel

Zurück