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Veröffentlicht am 20.01.2022

Migration und Geschichte(n): Vom Spurensuchen, Fädenverknüpfen und Neuerzählen. Ein Gastbeitrag von Cecil Arndt.

Cecil Arndt lebt in Köln und arbeitet als Autorin, Referentin der politischen Bildung und Trainerin für Empowerment mit den Schwerpunkten Rassismus- und Macht(kritik), Gender und Intersektionalität. Weil wir als Projektteam Cecils Arbeit und ihren machtkritischen Ansatz im Bereich der Erinnerungskultur sehr schätzen und in Vorgesprächen kennenlernen durften, haben wir Sie eingeladen, ein inspirierendes und sensibilisierendes Echo zu unserem Projekt zu formulieren, das wir nun an dieser Stelle veröffentlichen dürfen. 

Migration und Geschichte(n): Vom Spurensuchen, Fädenverknüpfen und Neuerzählen

Cecil Arndt

Worüber Menschen sprechen, wenn es um "Migrationsgeschichte" geht, ist gar nicht so eindeutig, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Denn was genau mit "Migrationsgeschichte" gemeint ist, wer sie wem erzählt, und welche verschiedenen Bedeutungen das Erzählte annehmen kann, hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab.

Deshalb ist es wichtig, sich im Zusammenhang mit Migration (der "Wanderungsbewegung" von Menschen) und mit Geschichte (der "Entwicklung der Menschheit / der Gesellschaft") vorweg einige Fragen zu stellen, die deren politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen berühren. Dabei sollten wir uns immer wieder klar machen, dass es nicht um irgendeinen "Forschungsgegenstand", sondern um konkrete Menschen geht, deren Geschichte erforscht und erzählt werden soll - um Menschen also, von denen diese Geschichte handelt (als "Objekte" der Migrationsgeschichte), und die gleichzeitig in dieser Geschichte die Handelnden sind ("Subjekte" der Migrationsgeschichte).

Das, was wir erzählen und wie wir davon erzählen, erzählt immer auch unsere eigene Geschichte und (von) uns Selbst - egal, wer wir sind. Bevor wir mit dem Forschen und Erzählen beginnen, ist es deshalb wichtig zu klären, mit welchen Fragen und vor welchem Hintergrund wir erzählen, in welchem Verhältnis wir zu dem Erzählten stehen, und wen wir sprechen lassen wollen.


Woher, wohin und wann

Zunächst ist es deshalb notwendig, das, was wir unter Migrationsgeschichte verstehen, räumlich und zeitlich einzugrenzen: Sprechen wir über Migration im Allgemeinen, als etwas, das Menschen schon immer und überall auf der Welt und in alle Richtungen unternommen haben? Oder beziehen wir uns auf einen bestimmten geographischen Raum, etwa auf die Südhalbkugel, oder auf Europa, oder nur auf ein bestimmtes Land - wie im Fall unseres Projekts "Jugendliche erforschen Migrationsgeschichte" auf Deutschland? Und über welche Form von Migration wollen wir sprechen - über Auswanderung aus Deutschland, z.B. nach Australien oder Südamerika, über Binnenmigration, z.B. aus München nach Köln-Porz (und fällt eigentlich auch ein Umzug von Rostock nach Köln-Ehrenfeld vor dem "Mauerfall" darunter?), oder begrenzen wir uns beim Thema Migration auf die Einwanderung nach Deutschland? Und was meinen wir mit Deutschland - das, was in unterschiedlichen Grenzen seit 1949 die Bundesrepublik Deutschland ist, oder zählen wir auch die damalige DDR dazu, das Dritte Reich, die Weimarer Republik, das Deutsche Kaiserreich?

Geographische Grenzen sind immer auch politische Grenzen und markieren Räume, in denen bestimmte Lebensbedingungen, politische Ideen, kulturelle Sitten und Gebräuche vorherrschen und bestimmte Gesetze gelten. Dies führt uns direkt zu der Frage, über welchen Zeitraum wir sprechen: Wann fängt die Migrationsgeschichte eines Landes eigentlich an? Beginnt die Migrationsgeschichte Deutschlands mit der Verdrängung des homo neanderthalensis durch den vom afrikanischen Kontinent eingewanderten homo sapiens? Was ist mit den Römern und den Völkerwanderungen z.B. der Hunnen, der Bayern, der Sachsen, der Franken, der Alamannen und der slawischen Stämme im Frühmittelalter? Wen und was bezeichnet Migration im Deutschen Kaiserreich, dessen östliche Grenzen fast bis zum heutigen Litauen reichen? Was ist mit den wenigen nach 1945 zurückgekehrten Jüdinnen und Juden, denen unter den Nazis die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt wurde? Und haben die nach dem Zweiten Weltkrieg aus den ehemaligen Ostgebieten Vertriebenen eigentlich einen Migrationshintergrund, und sind ihre Nachkommen "Migrantenkinder"? Diese Fragen erscheinen nur auf den ersten Blick "komisch" - denn es sind, neben der gesellschaftlichen Wahrnehmung (die leider allzu häufig auch eine Geschichte des Rassismus und der Ausgrenzung erzählt) diese historischen, politischen und damit rechtlichen Grenzen, die bestimmen, wer eigentlich als Immigrant und Immi¬grantin zählt, und wer als "echter Eingeborener". Daher ist es, vor allem der Erzählbarkeit halber, wichtig, auch die zeitliche Periode einzugrenzen, zu der geforscht, von der erzählt werden soll.


Wer, wie und warum

Auch die Frage, über wen Migrationsgeschichte eigentlich etwas erzählt, ist nicht ganz eindeutig - denn Migrationsgeschichte (die im Folgenden zur Vereinfachung auf die Geschichte der Migration in die BRD seit 1949 reduziert wird) erzählt nicht nur etwas über diejenigen, die aus den verschiedensten Gründen einst die Entscheidung getroffen haben, nach Deutschland zu immigrieren, sondern auch etwas über die Menschen, mit denen sie fortan zusammenleben. Neben denjenigen, die nach Deutschland kommen oder als deren Kinder schon eine ganze Weile hier leben, gibt es weitere Akteure der Migrationsgeschichte, die ihre Einreise- und Lebensbedingungen und damit die Geschichte mitbestimmen, auch wenn diese nicht unbedingt als konkrete Personen auszumachen sind. Es sind z.B. Politiker, die Gesetze erlassen, welche bestimmen, wer in Deutschland zu welchen Bedingungen leben darf und wer nicht (Stichworte hier sind Ausländergesetze, Asylgesetzgebung, Aufenthaltsgesetze, Arbeitsgesetze etc.). Diese werden auch mitbestimmt durch die gesellschaftliche Stimmung, die unter den Einwohnern eines Landes vorherrscht (und umgekehrt), und die sich darin ausdrückt, wie willkommen eigentlich die verschiedenen Menschen sind, die als Migranten und Migrantinnen wahrgenommen werden, weil sie aus anderen Ländern kommen, vielleicht unterschiedliche Hautfarben, beim Deutschsprechen einen Akzent oder andere kulturelle Hintergründe haben. Auch die Interessen der Wirtschaft (der Industrie, des Dienstleistungsgewerbes, des Handels) in einem Land  beeinflussen die Möglichkeiten der Immigration: Werden gerade händeringend mehr Arbeitskräfte gebraucht, und wenn ja, welche? Die Berichterstattung in den Medien gestaltet das Klima mit, in dem Migration und das Zusammenleben der unterschiedlichen Menschen stattfindet: Wie und mit welchen Mitteln wird Migration im Fernsehen, im Radio, in der Zeitung  thematisiert (als Bereicherung? Als Problem? Als Chance auf Entwicklung?), und wie wird über die verschiedenen Migranten und Migrantinnen gesprochen (als verschiedene Gruppen? Als Individuen? Als "Fremde", die sich irgendwie von der "Mehrheitsgesellschaft" unterscheiden? Als Menschen mit Problemen? Oder als Menschen mit reichem Erfahrungsschatz, die z.B. Sprachen sprechen, die viele andere der hier lebenden Menschen von ihnen lernen könnten?). Wie stark dabei die Perspektiven derjenigen repräsentiert werden, über die gesprochen wird, und wie stark ihre verschiedenen Meinungen, Interessen und Bedürfnisse Anerkennung finden, hängt in starkem Maße auch davon ab, ob und wie sie z.B. in den oben genannten Bereichen vertreten sind. Ausschlaggebend hierfür sind auch die verschiedenen "Communities", in denen z.B. ein gemeinsamer Alltag stattfindet, Erfahrungen ausgetauscht, Interessen vertreten und Haltungen verhandelt werden, sowie Verbände, Vereine, kulturelle Einrichtungen und Institutionen, Musik, Romane, Museen etc. Dazu zählt auch das Sammeln und Erzählen von Geschichten, die manchmal Gemeinsamkeiten aufweisen, vor allem aber individuelle und manchmal sehr unterschiedliche Erfahrungen hörbar und erlebbar machen, ohne die ein Sprechen über Migration und Geschichte nicht möglich ist.

Wer erzählt was?

Die Darstellung von Geschichte hängt in starkem Maße davon ab, wer diese Geschichte erzählt, vor welchem Hintergrund, anhand welcher Fragen erzählt wird, und worauf genau diese Geschichte das Hauptaugenmerk richtet. Und wie im "wahren Leben"  unterscheiden sich auch die Erinnerungen der jeweiligen Erzähler stark voneinander - u.a. meist abhängig davon, wie sich das Erlebte (oder auch das Vermittelte) angefühlt und auf das eigene Leben ausgewirkt hat, wie und mit wem darüber gesprochen wird und welches Ziel das Erzählen hat.


Dabei lassen sich einige Fakten (z.B. die offiziellen Zahlen von nach Deutschland immigrierten Menschen und in Dokumenten festgehaltene Daten von Ereignissen) leicht recherchieren und sind - zumindest einigermaßen - leicht "objektivierbar" (obwohl wir uns immer vor Augen halten sollten, dass beim Aufzählen immer auch vieles weggelassen und damit unsichtbar gemacht wird, das für andere vielleicht wichtig gewesen wäre). Quellen hierfür können z.B. das Statistische Bundesamt sein, das u.a. Menschen nach unterschiedlichen (aber nicht immer unumstrittenen) Kriterien wie Nationalität, Einwanderungsdatum, Migrationshintergrund, Einkommen etc. erfasst; Abhandlungen über die staatliche Ausländerpolitik, die die Entwicklung der verschiedenen Ausländergesetze nachzeichnen; oder Geschichtsbücher, die wichtige gesellschaftliche Ereignisse (aber eben nie alle) in den verschiedenen Zeiträumen darstellen. Aufschlussreich kann es hierbei sein, nach konkreten Ereignissen auch in den Zeitungen von "damals" zu suchen oder (z.B. im Internet) Fernsehbilder zusammenzutragen und sich anzusehen, wie von diesen Ereignissen berichtet wurde. Konkrete Ereignisse, die wichtige Bestandteile der Migrationsgeschichte darstellen, sind häufig Gesetzesänderungen, die immer auch von gesellschaftlichen Ereignissen begleitet werden wie z.B. Demonstrationen, von bestimmten in den Medien und auf der Straße geführten Debatten (wie die weiter unten beschriebene "Asyldebatte", die "GreenCard-Debatte", die Debatte über die Rütli-Schule, die Islamismus-Debatte etc.), der Veröffentlichung von Büchern, die z.B. rassistische Thesen verbreiten, oder die Einberufung von Institutionen wie der Islam-Konferenz. Auch erschütternde Ereignisse sind darunter  - wie die Serie von Brandanschlägen auf Menschen mit Migrationshintergrund in den 90er Jahren. oder die Serie von rassistischen Morden durch die NSU, die von der Mehrheitsgesellschaft, von den Medien, der Politik und den Sicherheitsbehörden nicht als rassistisch motiviert anerkannt worden sind, sondern statt dessen konstruierten Konflikten zwischen verschiedenen MigrantInnengruppen zugeschrieben wurden. All diese Ereignisse sind wichtig für die Geschichte der Migration, da sie maßgeblich das Zusammenleben von Menschen mit und ohne Migrationshintergrund beeinflussen und das, was wir wechselseitig voneinander denken und woran wir uns erinnern.


In der Regel werden für die Migration in die BRD bestimmte Gruppen von Menschen genannt, deren Immigration für die deutsche Geschichte als bedeutungsvoll erachtet wird, und die bestimmte Phasen der Migrationsgeschichte markieren (s.u.). Manchmal wird dies an Nationalitäten oder anderen "Gruppenmerkmalen" wie Religionszugehörigkeit, Hautfarbe oder kultureller Hintergrund festgemacht, die aus verschiedenen und nicht immer wertneutralen Gründen "bemerkt" werden (z.B. wegen der Anzahl der Menschen, ihrer Verteilung in den verschiedenen Stadtvierteln, ihrer Sichtbarkeit z.B. durch eigene Institutionen wie bestimmten Gemeinden oder Schulen, aber auch aufgrund zeitgeschichtlicher Ereignisse der Weltpolitik wie Kriegen oder schlicht aufgrund von Konflikten zwischen Menschen der Mehrheitsgesellschaft und "anderen" Gruppen). Selten aber finden sich die Erzählungen der Migrationsgeschichte aus der Perspektive von MigrantInnen in den "offiziellen" Schriften zur Migration - denn diese werden meistens von Menschen und Institutionen der irgendwie als "ursprünglich" begriffenen Mehrheitsgesellschaft verfasst, auch wenn diese sich im Laufe der Jahre und mit zunehmenden Einfluss der "Anderen" langsam verändert und ihren Blick erweitert haben. Dabei unterscheidet sich das kollektive Gedächtnis (also die Sammlung derjenigen Ereignisse, die von einer Gruppe von Menschen in einer bestimmten Weise gemeinsam erinnert und weitergegeben wird) der Mehrheitsgesellschaft oft von dem der verschiedenen migrantischen Communities. So beschränken sich z.B. die Erinnerungen an die rassistischen Ereignisse in den 1990er Jahren von Menschen mit migrantischem Hintergrund vielleicht nicht auf die Brandanschläge - und somit auf die Taten von Einzelnen -, sondern schließen die Erinnerung an eine allgemeine rassistische Stimmung und die Medienhetze mit ein, während im Gedächtnis der Mehrheitsgesellschaft die als Reaktion abgehaltenen Lichterketten eine größere Rolle spielen werden. Ebenso werden sich migrantische Communities die NSU-Morde und den Nagelbombenanschlag in Köln betreffend auch an die Verdächtigungen des migrantischen Umfelds und der Familie der Opfer durch die Behörden erinnern und daran, dass das über Jahre miteinander geteilte Wissen über das dahinterliegende rassistische Motiv von der Mehrheitsgesellschaft und der Polizei nicht (an)erkannt wurde. Im kollektiven Gedächtnis der Mehrheitsgesellschaft wird womöglich das plötzliche Erschrecken über die Aufdeckung der Morde, über die Möglichkeit, dass Menschen aus rassistischen Motiven über Jahre hinweg unentdeckt Menschen migrantischer Herkunft ermorden können, und das Erstaunen über das "Versagen" der staatlichen Behörden überwiegen.


Auch die Erinnerungen der migrantischen, migrantisierten und rassifizierten Subjekte sowie der verschiedenen migrantischen Communities und unterscheiden sich  voneinander - denn auch diese sind verschiedenen Entwicklungen, Zuschreibungen, Teilungen und Neuzusammensetzungen unterworfen. Dabei spielen - neben vielem anderen - die weitergegebenen Familiengeschichten und "Heimaterzählungen", das Alter und die Generation der Erzählenden, die verschiedenen Erfahrungen und Möglichkeiten der Einzelnen, ihr rechtlicher Status und ihre individuellen Vorlieben eine entscheidende Rolle. Es macht schließlich einen Unterschied, ob ein Mensch über eigene Migrationserfahrungen verfügt, selbst bestimmte Gründe für die Entscheidung hatte, in ein anderes Land zu immigrieren und den "Besuch" in einem Ausländeramts aus eigener Erfahrung kennt; oder ob jemand einen (häufig über fragwürdige Sichtbarkeitskriterien zugeschriebenen) Migrationshintergrund hat, ohne selbst jemals woanders gewohnt zu haben als in seinem Stadtteil und das ihm zugeschriebene "Heimatland" nur aus dem Urlaub (oder vielleicht gar nicht) kennt.  All diese (und viele andere) Faktoren bestimmen die Wahrnehmung des Themas Migration und ihrer Geschichte. Die jeweils individuellen und vom eigenen alltäglichen Erleben bestimmten Erinnerungen und Perspektiven verändern die Geschichten, die wir über Migration sammeln und erzählen. Deshalb ist es wichtig, die Geschichte der Migration auch und vor allem von denjenigen erzählen zu lassen, über die beim Thema Migration gesprochen wird (meist ohne dabei selbst zu Wort zu kommen). So können die vielen verschiedenen Lebenserfahrungen - die Entscheidung zur und die Stationen der Migration, die Gründe, die die verschiedenen Menschen für ihre Immigration hatten, und die Erinnerungen daran, wie sich das Leben nach der Immigration gestaltet hat - erzählt und aufbewahrt werden, um die Geschichte so vielstimmig wie möglich zu gestalten.


Auf diese Weise kann deutlich werden: Es gibt nicht die "eine" Geschichte der Migration, die immer und für alle Gültigkeit beanspruchen könnte - vielmehr wird Geschichte jeden Tag von vielen verschiedenen Menschen gemacht, immer wieder neu und anders erlebt und täglich neu geschrieben. Die Erinnerungen an diese Geschichte(n) aus möglichst vielen unterschiedlichen Zeiten und Perspektiven erzählen zu lassen, zu sammeln, zu bewahren und weiterzugeben ist Aufgabe von uns allen; uns auf die Suche nach den Spuren zu begeben, die diejenigen vor uns und vielleicht auch wir selbst in den Erzählungen und Räumen hinterlassen haben, in denen wir uns heute bewegen, und auf dieser Suche neue Spuren zu hinterlassen, kann ein erster Schritt dazu sein, Unerzähltes und Ungehörtes aufzudecken, Geschichte(n) neu zu erzählen und sie so in uns und unseren Räumen lebendig werden zu lassen.

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