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Veröffentlicht am 11.10.2023

Na Kasecje! Polnisch-deutsche Erinnerungen in Bochum.

In Na Kasecje! treffen wir Piotr und Wilfriede. Na Kasecje bedeutet: auf Kassette. Wir legen die Kassette, in das Tonbandgerät, den Kassettenspieler oder den Walkman ein, drücken auf Play und tauchen in Erzählungen, Erinnerungen und Imaginationen polnisch-deutscher (Un)Hörbarkeit ein.

Na Kasecje! Polnisch-deutsche Erinnerungen in Bochum.
von Julia Nitschke und Natalie Pielok

In Na Kasecje! treffen wir Piotr und Wilfriede. Na Kasecje bedeutet: auf Kassette. Wir legen die Kassette, in das Tonbandgerät, den Kassettenspieler oder den Walkman ein, drücken auf Play und tauchen in Erzählungen, Erinnerungen und Imaginationen polnisch-deutscher (Un)Hörbarkeit ein. Wir hören Geschichten, die geprägt sind von einer Bewegung, vom Ankommen und vom Abreisen, vom alten und vom neuen Zuhause Bochum.

Na Kasecje! verbindet Erinnerungsarbeit und Medienarchiv, das Aufkommen der Tonbandkassette mit Geschichten von Migration und Grenzübergängen. Es zeigt die Analogie zwischen Tonband und Familienalbum, die Rolle der Kassette als Medium der Alltäglichkeit und die Nähe, die ein bewusstes Zuhören produziert.

Mit der Kommerzialisierung der Kompaktkassette um 1963 bot sich ein höchst anwendungsfreundlicher und weit verbreiteter Standard privaten Hörens und Aufnehmens. Es setzte sich ein ,,alltägliches Hören sowie Produzieren von Sound sozial wie räumlich tiefgreifend durch‘‘, denn:

,,Die Kassette war auch jenen sozialen Schichten oder jüngeren Hörer/innen zugänglich, die sich in den Nachkriegsdekaden kein Tonbandgerät bzw. später keine Stereoanlage leisten konnten, und sie durchbrach die mit diesen hochwertigen Geräten eingeübten Konventionen des männlich geprägten Hi-Fi-Hörens zugunsten eines Zwischendurch- und Nebenbeihörens von Musik, Hörspielen oder anderem. Gehört wurde mobil im Auto ebenso wie auf der Parkbank oder in diversen häuslichen Räumen.‘‘ (Weber 2018)

Ein mobiles, globales Hören war geboren. So wie sich Piotr und Wilfriede auf den Weg machten, sich vom (jetzigen) Polen nach Deutschland in Bewegung setzten – zwischen Orten mobil wurden – so ermöglichte auch die Kompaktkassette Mobilität im Hören.

Für Na Kasecje! haben Julia Nitschke und Natalie Pielok mit Piotr und Wilfriede gesprochen, sie zu Lieblingsorten und ihrem Leben und Ankommen in Bochum befragt. Die gekürzten Interviews können in der Ausstellung als Tonbandkassette angehört werden – ob laufend mit dem Walkman oder ruhend an einer Hörstation. Ganz im Zuge der Historie von Kassetten als vermeindliche ,,sprechende Notizbücher‘‘ (Bjisterveld 2004) wird es auch ein Kassettengästebuch geben, in dem die Besucher*innen aufgefordert sind selbst zu sprechen, Piotr und Wilfriede zu Antworten oder eigene Geschichten zu erzählen.



Gerahmt wird das Ganze von der Videoarbeit Hinterlassenschaften von Julia Nitschke, in derer sich Julia mit ihrer eigenen oberschlesischen Familiengeschichte auseinandersetzt. Hauptprotagonist ihrer Filmskizze ist eine Oblate, die aufzeigt, wie alle Familienerzählungen – ob ausgedacht oder wahr – miteinander verbunden sind.



Historische Einordnungen
Es ist wichtig, sich an die Ereignisse und Veränderungen zu erinnern, die in Regionen wie Nieder- oder Oberschlesien stattgefunden haben. Die Geschichte Europas im 20. Jahrhundert war von zahlreichen Konflikten, Kriegen und territorialen Veränderungen geprägt, die das Leben vieler Menschen beeinflusst haben. Der Deutsch-polnische Grenzvertrag von 1990 und die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze waren bedeutende Schritte in der Festigung der territorialen Grenzen und der Beziehungen zwischen Deutschland und Polen. Die Regionen, aus denen unsere Interviewspartner*innen herkommen zeigen, wie eng die deutsche Geschichte mit Polen schon immer verwoben war.



Flatow zum Beispiel, befand sich einst in der Provinz Westpreußen, heute bekannt als Złotów. Nach der Besetzung des Kreisgebiets durch russische Soldaten im Frühjahr 1945 und der darauffolgenden Übernahme durch eine polnische Verwaltung, wurden Teile des Landes von polnischen Bauern in Anspruch genommen. Diese Bauern waren zuvor aus den polnischen Ostgebieten vertrieben worden, die an Russland abgetreten wurden. Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung geschah oft mit großer Härte. Rache, Wut, Plünderung und der Wunsch nach Besitz ergriffen in den chaotischen Nachkriegszeiten die Oberhand. Dies geschah vor allem, weil Deutsche nach dem Überfall auf Polen im Jahr 1939 in anderen Gebieten polnische Bevölkerungsgruppen brutal vertrieben hatten. Seit dem Deutsch-polnischen Grenzvertrag von 1990, der die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze beinhaltet, gehört diese Region zum polnischen Staatsgebiet. (1)

Auch Oberschlesien – die Region aus der Natalies und Julias Familien stammen – ist eine Region, in der unterschiedliche kulturelle Einflüsse zusammentreffen. Es gibt sowohl polnische, als auch deutsche und tschechische kulturelle Elemente. Die Bevölkerung ist oft zweisprachig. Natalie und Julia haben auch weitere Menschen aus Oberschlesien im Ruhrgebiet getroffen und mit ihnen über ihre Geschichte geredet. Leider wollten diese Menschen am Ende, aber ihre Geschichte nicht öffentlich teilen. Wir respektieren ihren Wunsch und erkennen an, dass manche Geschichten Bochums, geheim und undurchsichtig bleiben müssen. Wir vertrauen darauf, dass sich ihre Perspektiven in anderen Formen weitererzählen werden.

(1) Vgl.: https://www.bpb.de/lernen/angebote/grafstat/krise-und-sozialisation/224320/m-03-04-01-franz-gruen-meine-kindheit-und-kriegserlebnisse-in-pommern/
, https://de.wikipedia.org/wiki/Z%C5%82ot%C3%B3w

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Text, Fotos: Julia Nitschke und Natalie Pielok

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