Veröffentlicht am 09.10.2023
Im Porträt: Yoo Jung-Hi | „Hier ist meine Heimat, und nicht nur meine Heimat, sondern auch die Heimat meiner Kinder. In Bochum bin ich ‚gewurzelt‘.“
Min-Dju Jansen hat sich in Bochum Stadt der Vielen vor allem mit der Geschichte der Menschen koreanischer Herkunft beschäftigt. Im Frühjahr 2022 hat sie mit Mitgliedern einer koreanischen Kirchengemeinde gearbeitet. Das Ergebnis dieser Arbeit ist eine Reihe persönlicher Geschichten, manchmal in zwei Stimmen.
Im Porträt: Yoo Jung-Hi | „Hier ist meine Heimat, und nicht nur meine Heimat, sondern auch die Heimat meiner Kinder. In Bochum bin ich ‚gewurzelt‘.“
von Min-Dju Jansen
Mein Name ist Jung-Hi Yoo ich wurde 1946 in Korea geboren und bin am 20.06.1979 mit meinen zwei Kindern zu meinem Mann nach Deutschland gekommen.
Mein Sohn ist inzwischen 50 Jahre alt, er war Hauptmann bei der Bundeswehr und arbeitet jetzt in Stuttgart in einer Ingenieursfirma. Meine Tochter ist 48, sie hat eine MTRA-Ausbildung (Medizinische Technologin für Radiologie) gemacht und hat 12 Jahre in einer Radiologie-Praxis gearbeitet, bis sie krank geworden ist und operiert wurde. Vor der Operation war sie zu 100 Prozent schwerbehindert, seit der Operation sind es um die 50 Prozent. Die Rentenkasse wollte sie in Frührente schicken, aber meine Tochter wollte unbedingt arbeiten und wartet derzeit auf eine neue Arbeitsstelle.
Mein Mann ist 2004 gestorben. Er ist als Bergarbeiter nach Deutschland gekommen und hat danach eine drei-jährige Krankenpflegeausbildung gemacht und bis zur Rente als Krankenpfleger in Bergmannsheil gearbeitet.
Ich habe auch in Deutschland eine Ausbildung zur Krankenschwester gemacht und bin seit elf Jahren in Rente.
Der Alltag
Bei gutem Wetter beschäftige ich mich zurzeit viel mit meinem Schrebergarten gegenüber vom Planetarium, den wir seit 1996 haben. Am meisten pflanze ich Blumen, aber auch Gemüse, wie koreanische Gurken, wilden Sesam, Zucchini und Chili an. Mit fast 77 Jahren wird die Arbeit im Garten immer schwerer und ich überlege langsam, den Garten abzugeben, aber bis jetzt tue ich, was ich tun kann.
Sonntags gehe ich immer in die Kirche und beschäftige mich generell viel mit den Gemeindemitgliedern. Ab und zu lade ich sie auch ein und wir grillen zusammen.
Ich bin jetzt über 70 und jeder Tag ist ein neues Geschenk. Man weiß nicht, wann der liebe Gott uns ruft, aber ich bin sehr zufrieden hier.
Der Weg nach Deutschland
Meine Kindheit und Jugend habe ich in der Provinz Gangwondo an der Ostküste Südkoreas verbracht. Nach meinem Schulabschluss habe ich als Sekretärin in Seoul gearbeitet. Mit 27 habe ich geheiratet und mit der Arbeit aufgehört. Mein Mann, den ich in der Kirchengemeinde kennengelernt habe, war damals bereits 35 Jahre alt und hat versucht irgendwie Geld zu verdienen, aber nichts hat wirklich funktioniert. Als er dann eine Anzeige gesehen hat, dass man als Bergarbeiter nach Deutschland gehen kann, hat er sich beworben und ist, als er 36 war und ich mit dem zweiten Kind im dritten Monat schwanger, nach Deutschland gegangen.
In Deutschland hat er einen alten Kindheitsfreund getroffen, Dr. Samuel Lee und mit ihm viel gegen die damalige Militärdiktatur Park Chung-hees demonstriert, weshalb er nicht zurück nach Korea durfte. Der ursprüngliche Plan war, dass er nach drei Jahren zurück nach Korea kommt, da dies aber nicht mehr ging, wollte ich mit den Kindern nach Deutschland. Uns wurde aber die Ausreise verweigert, weil wir wegen seiner Aktivitäten in Deutschland auf der roten Liste standen.
1979 im Vorfeld des Besuchs des damaligen US-amerikanischen Präsidenten Jimmy Carter in Südkorea, lockerte sich die politische Lage etwas, so dass mir und meinen Kindern die Ausreise genehmigt wurde und am 20.06.1979 sind wir nach Deutschland gekommen.
Leben in Deutschland
Wir haben in Dortmund gelebt, weil mein Mann erst in Gelsenkirchen in einer Zeche und dann in einer Stahlfirma gearbeitet hat. Er hat sehr sparsam gelebt und versucht Geld zu sparen. Als wir in Deutschland angekommen sind und ich gesehen habe, wie er hier lebt, habe ich mich gefragt, wo sind wir hier gelandet? Ist das Deutschland?
Wir haben zu viert in einer 48qm Wohnung mit einer Küche, einem Wohnzimmer und einem Schlafzimmer gelebt. Das Wohnzimmer wurde durch den Kohleofen in der Küche ein bisschen geheizt, aber das Schlafzimmer war immer kalt. Im Winter hatte ich Angst um meine Kinder. Ich habe eine Schüssel mit Wasser ins Schlafzimmer gestellt und wenn ich morgens nachgeguckt habe, hatte sich eine Eisschicht in der Schüssel gebildet, so kalt war es in der Wohnung. In dieser Wohnung haben wir eineinhalb Jahre gelebt, bis wir dann wegen der Arbeit meines Mannes nach Bochum in eine Sozialwohnung umgezogen sind. Als ich die Tür zum ersten Mal aufgemacht habe, kam mir warme Luft entgegen, es war wie im Paradies.
Von dem Geld, das mein Mann gespart hatte, konnten wir uns 1988 eine Wohnung kaufen. Es war ein Angebot für Alleinverdienende mit Kindern und wenn man ein Zehntel des Wohnungspreises bezahlen konnte, konnte man sich dort bewerben. Wir haben fast alles selbst gemacht in der Wohnung, wie z.B. den Boden, um Geld zu sparen und bis heute ist der Boden auch ohne neuerliche Renovierung gut geblieben. Jetzt in Rente, als Wohnungseigentümerin, habe ich wirklich Glück.
Wir sind nach Bochum gezogen, weil mein Mann im Bergmannsheil eine Stelle als Helfer für Krankenpflegehelfer*innen gefunden hatte. Nach seinen drei Jahren unter Tage hatte er in einer Stahlfirma gearbeitet, war dort aber nicht glücklich. Er hatte in Korea studiert und war unzufrieden mit der Routinearbeit. Für die Stelle als Helfer brauchte er keine Ausbildung und ist auf der Abteilung für Querschnittsgelähmte gelandet, wo er den ganzen Tag die Patienten geduscht und gepflegt hat. Wenn er abends nach Hause kam, war er total kaputt.
Er hat dann versucht, eine Ausbildung zum Krankenpfleger zu machen, aber die Verwaltung meinte, er sei zu alt. Er war damals 39 und die Altersgrenze lag bei 35. Letztendlich hat er aber doch eine Stelle bekommen und auf der inneren Intensivstation und in der Anästhesie gearbeitet, bis er mit 69 in Rente gegangen ist.
Vormittags, wenn die Kinder in der Schule waren, habe ich einen Sprachkurs des AStA an der Universität besucht, der für Afghanen gedacht war, die 1980 nach Deutschland kamen.
Nachmittags war ich bei einem anderen Kurs. Die Grammatik war in Ordnung, ich habe mir gesagt, dass es wie Mathematik ist, mit Regeln, oder wie ein Puzzle. Aber die Umgangssprache war schwierig. Ich war ja hauptsächlich mit den Kindern alleine zuhause.
Lebenswendepunkt - Ausbildung
Während seiner Ausbildung hatte mein Mann den damaligen Schulleiter der Schule kennengelernt und ihm von mir erzählt, mit der Bitte, Bescheid zu sagen, wenn es für mich auch eine Stelle geben würde. Die Verwaltung und auch das Krankenhaus hätten mir eine Ausbildungsstelle gegeben. Ich bin also zum Arbeitsamt, aber sie wollten mir keine Arbeitserlaubnis geben. Sie meinten, dass es in Deutschland viele arbeitslose Jugendliche gibt, wieso sollten sie einer alten Frau aus einem anderen Land einen Platz geben, das war 1985.
Jährlich hat mein Mann versucht, eine Arbeitserlaubnis für mich zu bekommen. Wie gesagt, das Problem war nicht die Schule oder das Krankenhaus, es war das Amt.
Mein Mann hatte Ende der 70er Jahre, als Park Chung-hee noch Präsident war, politisches Asyl in Deutschland beantragt und 1989 erhielt er es endlich. Ich, als seine Frau, erhielt dadurch automatisch eine Arbeitserlaubnis und habe zwei Jahre später, 1991, als ich schon 44 Jahre alt war, mit meiner Ausbildung angefangen.
Ich habe mich damals wie ein Affe im Tierpark gefühlt. Im Krankenhaus, wo wir alle drei Monate routinemäßig ein Praktikum machen mussten, war ich schon bekannt als die 44-jährige Koreanerin, die mit der Ausbildung anfängt. Die Leute haben gesagt, dass man in diesem Alter ja schon fast in Rente gehen kann. Wir Asiat*innen sind ja dafür bekannt, dass wir jung aussehen und ich wurde so oft gefragt, ob ich wirklich schon 44 bin. Ich habe mir gedacht „soll ich mir meinen Ausweis um den Hals hängen?“. Ich war wirklich bekannt in Bergmannsheil, nicht positiv, sondern negativ. Die Leute haben mich wegen meines Alters schikaniert. Vor mir gab es niemanden, der so spät mit der Ausbildung angefangen hat.
Nach dem Beginn des Jugoslawienkriegs 1991 kamen einige in meinem Alter, die auch die Ausbildung gemacht haben, die hatten aber meistens schon in ihrem Land eine Ausbildung gemacht und haben nur ihr Anerkennungsjahr bei uns gemacht.
Aber meine Lehrerin war stolz auf mich. Sie hat mich gefragt, wie ich das mache und ich habe gesagt, dass ich täglich nur 2-3 Stunden schlafe. Ich saß oft auf dem Balkon mit meinen Büchern und habe gedacht, dass ich das nicht schaffe. Aber mein Mann hat mich aufgeheitert und mir geholfen. Er hat z.B. den Examens-Fragebogen für Biologie genommen und gesagt: „Guck mal hier, hier ist eine Zelle, und was ist das in der Mitte? Und was ist das?“ Wir hatten das ja im Biologieunterricht in der Schule in Korea alles gelernt, also meinte ich: „Das ist das und das.“ Und er hat mich ermutigt und gesagt: „Siehst du! Du weißt das alles.“ Trotzdem, der Unterricht war schwierig und ich dachte, dass ich das alles nicht schaffe.
Während der Praktika habe ich mich minderwertig gefühlt und habe überlegt abzubrechen. Aber mein Stolz hat mich nicht aufhören lassen. Ich wollte zumindest die Probezeit bestehen, ich wollte nicht, dass die Leute sagen, sie hätten Recht gehabt, dass ich in so hohem Alter nicht durch die Probezeit komme. Also habe ich weitergemacht, habe die Probezeit überstanden, die Ausbildung zu Ende gemacht und es geschafft. Das war mein großer Wendepunkt.
Danach habe ich auf der Neurologie-Station gearbeitet. Das war mein Wunsch, denn seitdem meine Tochter sieben Jahre alt war, hatte sie Epilepsie und ich wollte wissen, woher diese Krankheit kommt. Körperlich war es sehr schwer, aber ich habe viel gelernt. Ich bin immer zu den Patient*innen und habe mich mit ihnen unterhalten, es waren Kleinigkeiten, aber unsere Mentalität ist ja generell so, dass wir Älteren gegenüber Respekt und Gehorsam zeigen.
Ich bin aber generell auch eher ein fleißiger Typ Mensch. Im Krankenhaus war ich immer unterwegs. Während die anderen geraucht haben, bin ich schon ins Labor gelaufen. Weil ich nicht hören wollte, dass jemand zu mir sagt: „Kannst du dies machen, kannst du das erledigen?“ Ich hatte es schon erledigt, bevor dieser Ton überhaupt kam.
Mit 65 bin ich in Rente gegangen, damals dachte ich, dass ich eigentlich noch weiterarbeiten könnte, aber jetzt bin ich froh, dass ich damals in Rente gegangen bin.
Rückkehr nach Korea?
Nach Korea zurückzugehen war nie eine Frage. Im Urlaub kann ich nach Korea gehen, ein paar Monate, das geht. Aber der Lebensstil dort ist einfach anders als bei uns. Wenn ich zurück nach Deutschland komme, bin ich zufrieden.
In Korea fühle ich mich, glaube ich, oft minderwertig. In Korea verstehen viele nicht, wie ich hier lebe. Einige Freunde haben mich hier besucht, sie respektieren meinen Lebensstil, aber die anderen verstehen es nicht und fragen mich, warum ich so lebe, wie ich lebe, mit denen treffe ich mich dann auch nicht mehr.
Ich bin nicht ganz europäisch geworden. Ich bin weder europäisch noch koreanisch, wir haben hier unseren eigenen Stil. Wir sind sparsam und haben z.B. immer Wasser und Strom gespart.
In Korea muss man immer „schöne Sachen“ mitmachen und kaufen. Natürlich kann man schöne Sachen kaufen. Früher war ich einmal im Jahr etwas Schickes einkaufen für die Weihnachtsfeier meines Chefs, aber ich habe diese Klamotten nur ein paar Mal angezogen und dann nicht mehr. Das ist doch schade. Jetzt frage ich mich: „Brauche ich das wirklich?“, und wenn ich es nicht wirklich brauche, dann kaufe ich es nicht.
Die Leute in unserer Gemeinde sind genauso wie ich. Wir haben in unserer Kirchengemeinde eine Malawi-Aktion, bei der wir Kleidung sammeln, ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob den Leuten in Malawi unsere kleine Kleidung passt, aber es ist wohl besser, als die gute Kleidung einfach wegzuschmeißen.
Die Kirchengemeinde
In die Kirchengemeinde sind wir irgendwie ganz automatisch gekommen. Wir sind in Korea schon in die Kirche gegangen. Und in Deutschland hat mein Mann sehr aktiv mit Pastor Lee und Pastor Jang, der für koreanische Kirchengemeinden in NRW zuständig war, zusammengearbeitet, um gegen die damalige koreanische Regierung zu demonstrieren.
Als ich nach Deutschland kam, bin ich am ersten Sonntag erstmal ganz automatisch in die Kirche gegangen. Zunächst in Dortmund und als wir umgezogen sind, haben wir die Gemeinde in Bochum besucht und sind seitdem dageblieben.
Während der Chun-Doo-hwan-Ära (Regierungszeitraum: 1980-1988) haben wir viel demonstriert und immer unsere Kinder mitgenommen. Wir, also unsere Kirchengemeinde, hat ja auch den Ruf als „rote Kirche“. Wenn neue koreanische Studierende nach Bochum kommen, werden sie oft vor uns gewarnt. Es heißt dann, „passt bloß auf, geht nicht in diese Gemeinde.“ Daher kommen nur die paar wenigen zu uns, die sich nicht haben abschrecken lassen.
Das schönste an Bochum?
Die 80/90er Jahre waren die schönste Zeit in Bochum. Seitdem hat sich sehr vieles in der Stadt verändert. Früher gab es in der Stadtmitte große Geschäfte. Da waren z.B. Wertheim, Brinkmann und Kortum. Bei Kortum konnte man in der dritten oder vierten Etage leckere Wurst kaufen und bei Brinkmann nach elektronischen Sachen gucken. Aber leider sind all diese Geschäfte weg. Damals war es wirklich gemütlich, aber jetzt ist die Stadtmitte so traurig und all die schönen Geschäfte sind weg. Ich frage mich, warum Bochum so geworden ist.
Trotzdem ist hier einfach meine Heimat und nicht nur meine Heimat, sondern auch die Heimat meiner Kinder.
Als die Kinder kleiner waren, sind wir im Urlaub nach Holland gefahren und die Leute haben unsere Kinder gefragt, woher sie denn kommen. Ich weiß, was die Leute gefragt haben, sie wollten wissen, woher sie „ursprünglich“ kommen, aber meine Kinder meinten automatisch: Bochum! In Bochum bin ich ‚gewurzelt‘. Was an der Heimat so schön ist? Ich weiß es nicht, sie steht einfach an erster Stelle.
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Interview, Text: Min-Dju Jansen
Fotos: Sören Meffert